Women’s Cycling Grand Prix
Women’s Cycling Grand Prix: Hintergründe und Strecke
in Frauen-Radsport
Das Hauptfeld kommt immer näher. Die fünf Fahrerinnen an der Spitze des Rennens haben nur noch 20 Sekunden Vorsprung, als sie in die erste der vier Finalrunden einfahren. In der zweiten Runde greift die Italienerin Elena Pirrone an. Die vier anderen Fahrerinnen können ihr nicht folgen. Der Vorsprung wird schnell größer. Fünf Kilometer vor dem Ziel liegen ihre Verfolgerinnen 43 Sekunden zurück. „Als ich zum letzten Mal an der Spitzkehre war, habe ich realisiert, dass ich immer noch einen großen Vorsprung habe. Ab da habe ich an den Sieg geglaubt und bin die letzten 2,5 Kilometer einfach nur noch Vollgas gefahren. Ich habe fast geweint, denn es ist mein erster Profi-Sieg. Für mich ist es richtig emotional, hier zu gewinnen, und ich bin einfach nur glücklich“, sagt die Fahrerin aus dem Team Israel Premier Tech Roland anschließend im Fernsehinterview. Die Juniorinnen-Weltmeisterin des Jahres 2017 hat soeben nicht nur ihr erstes Rennen als Profi gewonnen, sondern auch die Premiere des Women’s Cycling Grand Prix in Stuttgart. Auf den Plätzen zwei und drei: die Österreicherin Kathrin Schweinberger und Linda Riedmann aus Karbach vom BDR-Nationalteam.
Insgesamt 40.000 Zuschauer waren am 16. Juli an die Strecke gekommen. Zudem verfolgten Zehntausende das Rennen vor den Bildschirmen, da der SWR die letzte Rennstunde live im Fernsehen und via Online-Stream übertrug – ein gelungener Auftakt für das neue UCI-Rennen.
Die Landeshauptstadt und der Verband Region Stuttgart hatten die Idee von Anfang an unterstützt, ein neues Profi-Radrennen für Frauen zu gründen. „Bei einem neuen Rennen kann man recht frei mit den Planungen beginnen, doch es gilt viele Sachen zu beachten. Das betrifft nicht nur die Strecke, sondern beispielsweise auch den Termin im UCI-Kalender.
Women’s Cycling Grand Prix: Region und Termin
Der Charakter des Grand Prix sollte zur Region passen – ein anspruchsvolles Auf und Ab“, sagt der Streckenplaner Albrecht Röder. „Wir haben deshalb im Vorfeld auch die Teams aus der WorldTour kontaktiert und ihr Feedback in unsere Planungen mit der Sportlichen Leiterin des Rennens, Lisa Brennauer, einbezogen.“ So haben sich die Veranstalter bewusst für einen Termin entschieden, der zwischen dem Giro d’Italia Donne und der Tour de France Femmes liegt. „Nach dem Rennen haben wir von den teilnehmenden Teams aus der WorldTour, dem Continental-Bereich und auch aus der Bundesliga viele positive Rückmeldungen zum Termin und zur Streckenführung erhalten“, so Röder.
Im Prozess der Planung stand neben Stuttgart als Zielort auch der Startpunkt früh fest: „Wir hatten die Kommunen im Land angeschrieben, und etliche Städte hatten sich beworben.“ Die Wahl fiel schließlich auf Tamm, die jüngste Stadt Baden-Württembergs. Die Menschen dort gelten als sehr sportbegeistert. Von den 12.600 Einwohnern sind 4000 in mindestens einem der zahlreichen Sportvereine. „Es ist auf jeden Fall so, dass der Frauenradsport zu wenig im Vordergrund steht, und es ist wichtig, eine Plattform zu schaffen. Das geschieht mit dem neuen Rennen hier in der Region“, erklärte Tamms Bürgermeister Martin Bernhard den Hintergrund der Bewerbung.
Der Startschuss in Tamm, die Ziellinie in Stuttgart – viel mehr stand zu Beginn jedoch noch nicht fest. „Der Rest war ein großes Puzzle. Man versucht, die Stärken der jeweiligen Top-Fahrerinnen einzuschätzen und das dann auf eine mögliche Strecke zu projizieren. Bei mir liefen im Kopf immer wieder kleine Filmchen ab, ich sah das Rennen förmlich vor mir“, sagte Lisa Brennauer im Vorfeld des Rennens.
Umfangreiche To-do-Liste
Streckenführung, Straßensperrungen, Gespräche mit Kommunen, Verkehrsverbünden, Anwohnern, Sportvereinen, Landwirten: Die To-do-Liste war umfangreich.
Ein weiteres Puzzlestück für die Planer: Neben dem Profirennen galt es noch verschiedene Strecken für das „Brezel Race“ zu entwerfen, ein Jedermann-Rennen, das im Jahr 2022 zum ersten Mal stattfand.
An dem parallel zum Women’s Cycling Grand Prix stattfindenden Hobbyrennen nahmen in diesem Jahr insgesamt fast 3000 Fahrer teil – auf abgesperrten Straßen wie die Profis. Was in Hamburg oder Münster bereits seit Jahren funktioniert, hat somit nun auch in Stuttgart geklappt: die Verknüpfung eines Profi-Rennens mit einem Breitensport-Event.
Während Röder als Streckenplaner auf reichlich Erfahrung verweisen kann – unter anderem hatte er bereits den Parcours der Deutschland Tour und der Deutschen Meisterschaften entworfen – war die Entwicklung des Women’s Cycling Grand Prix für die ehemalige Weltklasse-Radsportlerin Lisa Brennauer Neuland. „Sich intensiv über einen möglichen Verlauf Gedanken zu machen, Veränderungen vorzunehmen und die Strecke nach und nach weiterzuentwickeln, ist ein extrem spannender Prozess“, sagt sie über diese neue Erfahrung.
Klassikerstrecke und Zuschauer
Das Ziel bei der Streckenplanung lautete, ein Rennen mit dem Charakter eines Eintagesklassikers zu organisieren. Das Ergebnis: eine 105 Kilometer lange Strecke von Tamm über Markgröningen, Heimerdingen und Gerlingen bis nach Stuttgart. Das Streckenprofil: hügelig mit 1365 Höhenmetern, einigen kurzen, steilen Anstiegen wie beispielsweise den zur Schillerhöhe mit bis zu 15 Prozent Steigung oder der Kopfsteinpflasterpassage am Schloss Solitude.
Die finale Strecke führte zu einem sehr spannenden Rennverlauf. Besonders auffällig: die vielen Zuschauer am Straßenrand. „Ich hätte nicht erwartet, dass so viele Menschen an der Strecke sind. Vor allem die Schlussrunde am Marienplatz war krass“, sagte Linda Riedmann nach dem Rennen.
Romy Kasper fühlte sich sogar an einen Frühjahrsklassiker erinnert: „Ich kann es mit der Mur von Huy in Belgien vergleichen, wo die Radsportbegeisterung ja noch größer ist, aber das Gefühl am Anstieg war ähnlich.“
Aufschwung des Frauen-Radsports
Die Premiere des Women’s Cycling Grand Prix ist ein weiterer Beleg für den aktuellen Aufschwung des Frauen-Radsports. „Der Unterschied zu der Zeit, als ich 2001 mit dem Radsport begonnen habe, ist gigantisch“, sagte Lisa Brennauer bereits im Rahmen der offiziellen Streckenpräsentation. Egal, ob die Infrastruktur, die Gehälter, die Wettkampforganisation oder die Sichtbarkeit: „Da ist richtig viel passiert, und in den vergangenen beiden Jahren hat es noch einmal eine Explosion gegeben.“
Stuttgart und der Profi-Radsport – das scheint sich nach der teils chaotischen Straßen-WM 2007 nun womöglich doch noch zu einer erfolgreichen Beziehung zu entwickeln. So endete in Stuttgart in den Jahren 2021 und 2022 bereits jeweils eine Etappe der Deutschland Tour der Männer.
Mit dem Women’s Cycling Grand Prix könnte sich nun in der Landeshauptstadt auch ein anspruchsvolles Eintages-Rennen dauerhaft etablieren.