Istria 300, Radmarathon
Istria 300: Selbstversuch beim Radmarathon in Kroatien

Am Limit

Istria 300: Selbstversuch beim Radmarathon in Kroatien

300 Kilometer und 5400 Höhenmeter durch Kroatien, nonstop, am Limit. Der Selbstversuch beim Radmarathon Istria 300.
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60 km/h, 65, 68. Bremsen. Ich schieße einen Hügel hinunter – und bin plötzlich in einer Stadt, Pazin. Obwohl ich genau weiß, dass jetzt der Knotenpunkt kommt und damit die Entscheidung zwischen 235 und 300 Kilometern Distanz, bin ich doch überrascht. Der abgesperrte Kreisel ist unübersichtlich – ich habe nur wenige Sekundenbruchteile, um richtig abzubiegen. Ich fahre nach rechts weg, folge der schwarzen Route. Und bin allein.

Zum ersten Mal in meinem Leben überschreite ich die Marke: Ich fahre 300 Kilometer in einem Radrennen. 300 Kilometer an einem Tag – mit fast 5400 Höhenmetern, darunter Segmente, die in der Strava-App „Hell in Croatia“ heißen oder „Danger! Go fucking slow and don’t die“. Ich bin beim „Istria 300“.

Das Event eignet sich perfekt für solch ein Experiment, weil man noch auf der Strecke selbst entscheidet, ob man 155, 235 oder 300 Kilometer fahren will – beziehungsweise fahren kann. Ich habe mir die Minimum-Durchgangszeiten aufs Oberrohr geklebt, um noch spontan je nach dem Gefühl und dem Ermüdungsgrad entscheiden zu können. Am zweiten Verpflegungspunkt nach 141 Kilometern bin ich eine gute Stunde schneller als mein notiertes Minimum. „Auf geht’s, du willst es, du kannst es, trau dich“, spricht eine Stimme in meinem Kopf zu mir. Laut.

Die 235-Kilometer-Strecke kenne ich schon. Ich bin sie 2021 im Rahmen der Premiere von Istria 300 gefahren. Die Bora – der lokale kroatische Fallwind, vergleichbar mit dem französischen Mistral – blies damals so stark von den Bergen, dass mir schon bei den ersten Durchgangszeiten klar wurde, dass es keinen Sinn hatte, die 300 in Erwägung zu ziehen. Ich war dann trotz des Winds am Nachmittag relativ entspannt als 51. der Gesamtwertung im Ziel.

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Istria 300: Ausdauer und Leistung

Dieses Mal will ich mehr. Die reine Distanz ist nicht das Problem. Ich habe in diesem Jahr bislang rund 8.000 Kilometer und 80.000 Höhenmeter in den Beinen. Aber bei 300 Kilometern in Kombination mit knapp 5400 Höhenmetern und dem Zeitlimit wird mir übel. Nach zwölf Stunden ist Schicht, ich muss also einen 25er „Schnitt“ hinbekommen. Ich fahre eine Kompaktkurbel mit ovalen Kettenblättern von Absolute Black und einer maximalen Übersetzung von 34:34. Das gibt mir bergauf Reserven.

Ich bin nun mal, leider, kein Bergfahrer: Mit 187 Zentimetern Körpergröße bei 78 Kilogramm und einer Functional Threshold Power, FTP, von 260 Watt bin ich bergauf allenfalls Mittelmaß. Hinzu kommt, dass meine maximale Sauerstoffaufnahme, VO2max, mit 48,3 Millilitern pro Kilogramm und Minute zwar immer noch weit über dem Durchschnitt meiner Altersgruppe liegt. Mit meinen 57 Jahren reiche ich damit aber bei weitem nicht mehr an die Werte junger Fahrer heran. Altersgruppen gibt es nicht. Das Zeitlimit gilt für alle. Das Istria 300 ist auch im zweiten Jahr seines Bestehens ein hervorragend organisiertes Radrennen mit Start im mediterranen Hafenstädtchen Poreč. Auch jetzt, Anfang Oktober, sind die Temperaturen spätsommerlich warm. Bereits im zweiten Jahr ihres Bestehens war die Veranstaltung ausverkauft. Die Anmeldung für das Event 2023 läuft bereits.

Der Start: frühmorgens. Es ist kühl – noch. Schnell reißt das Fahrerfeld auseinander. Schnell bilden sich kleine und größere Gruppen. Gruppen, denen ich mich anschließen kann, um nicht alleine im Wind arbeiten zu müssen. Nach rund 140 Kilometern erreicht man den entscheidenden Knotenpunkt der Route und steht dann vor der Wahl – und der Frage: Was kann, was will, ich heute leisten und erleben? 680 von 1234 Teilnehmern haben sich bereits für die „kurze“ Variante, 155 Kilometer, entschieden. Sie sind längst weg. 302 Teilnehmer wählen die Mitteldistanz über 235. Der Rest wagt sich an die volle Distanz über 300 Kilometer und die „Hell in Croatia“. Es sind zu wenige, um passende Gruppen mit meiner Pace zu finden. Nach dem Knotenpunkt bin ich allein. Ich blicke mich um, und sehe: niemanden. Allein fahren kostet Kraft. Kraft, die ich mir heute extrem gut einteilen muss. Bei Kilometer 170 fahre ich endlich auf einen anderen Solisten auf, und fordere ihn zur Mitarbeit auf. „Endlich“, denke ich. Doch schon am nächsten Anstieg fällt er zurück. Und ich bin wieder allein.

Istria 300, Hartmut Ulrich, Selbstversuch

Hartmut Ulrich fuhr den Istria 300 und berichtet von seinen Erfahrungen

Finale und Höhenmeter

Zu allem Überfluss hat mein GPS-Radcomputer Schwierigkeiten mit den GPX-Daten. Erst setzt das Gerät mitten in der Route eine Zielflagge. Danach stellt es einfach das Routing ein. Ich versuche, während der Fahrt die Route neu zu laden – Fehlermeldung: „zu viele Daten“! Dadurch fehlen in der Aufzeichnung auf Strava nicht nur rund 20 Kilometer und 500 Höhenmeter. Ich habe auch kein Routing mehr und biege trotz der guten Beschilderung prompt zweimal falsch ab. Wieder ein paar Minuten verloren. Vor allem: Bei längeren Distanzen zähle ich die Kilometer runter. Der Trick besteht darin, sich die Gesamtstrecke in lauter kleine Häppchen zu zerlegen: Nur noch drei Kilometer, dann bist du über den Berg. Noch 25 Kilometer bis zum nächsten Verpflegungspunkt und so weiter. Das ist nun alles weg – und macht das Ganze mental umso schwieriger.

Doch: Hier, in Istrien, existieren noch weitere mentale „Motivations-Strategien“. Eine davon lautet: Ablenkung. Man fokussiert seine Gedanken weg von schmerzenden Muskeln – und hin auf die Landschaft um einen herum. Auf die meist leeren Straßen, auf die Hügel, auf das Meer, wenn es gerade zu sehen ist, auf die milde Luft. Auf den Geruch von Salz, Harz, Grün.

Irgendwann denke ich vor allem an das, was mich nach der Zieleinfahrt erwartet: eine Dusche, Essen, ein Hotelbett – und noch ein paar Tage Urlaub, am Meer, am Strand, in der Natur. Dies alles ist, was ich mir gewünscht habe. Es ist primär: eine Auszeit vom Alltag. Ein Erlebnis, wie man es sonst nicht macht. Etwas, das im Gedächtnis bleibt. Ich fahre durch Nadelbaumwäldchen, durch graue Felslandschaften, durch kleine Dörfchen mit Steinhäusern. Auf und ab und auf und ab. Die meisten Anstiege sind recht kurz, weniger als 100 Höhenmeter, aber teils steil und unrhythmisch zu fahren. Es ist die Masse der Hügel, die mir die Kraft aus den Beinen zieht.

Istria 300, Radmarathon

 

Istria 300, Radmarathon

 

Das Ziel

Doch irgendwann sehe ich dann das Ziel vor mir. Ich rolle über die Linie und sehe: Ich habe das Zeitlimit von zwölf Stunden verpasst. Um lächerliche 13 Minuten. Bei etwas über zwölf Minuten Standzeit für drei Verpflegungsstopps. Und trotz einer durchschnittlichen Leistung von 171 Watt.

Der Gewinner, der Ex-Radprofi Hans-Jörg Leopold aus Österreich, brauchte 08:47:46 Stunden für die 300 Kilometer – dies bedeutet ein beeindruckendes Stundenmittel von 34,1 km/h. Meine Pace betrug im Ziel 24,7 km/h, die Gesamtzeit 12:13:37 Stunden. Wo zur Hölle habe ich nur diese paar Minuten liegen lassen? Mehr als 60 Aspiranten sind in diesem Jahr aus der Wertung geflogen, 180 haben es geschafft. Ich komme wieder.

Dieser Artikel erschien in der RennRad 1-2/2023. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

Istria 300, Radmarathon

„Das Höhenprofil sieht aus wie ein Sägeblatt. Es ist die Masse der Hügel, die mir immer mehr Kraft aus dem Körper zieht.“


Istria 300 – Event & Strecken

300 Kilometer an einem Tag sind für viele Radsportler eine „magische“ Marke“. Im kroatischen Istrien lässt sich diese Marke in einem Event übertreffen. Der Radmarathon Istria 300 führt von der Küste in Poreč über die gesamte Halbinsel an der Adria. Die Zahlen der Langstrecke: 300 Kilometer und 5300 Höhenmeter. Alle, die sich auf der Strecke anders entscheiden, können unterwegs auf die 225- oder die 152-Kilometer-Strecke ausweichen. Das Datum: 7. Oktober 2023.

Ein sehr umfassendes Rahmenprogramm bietet viel Abwechslung. Der offizielle Beherbergungspartner Valamar bot in diesem Jahr für die Teilnehmer Rabatte von bis zu 25 Prozent an. Aufgrund des mediterranen Klimas und dem umfassenden Straßennetz mit wenig Verkehr im Hinterland entwickelte sich Istrien zu einer Top-Trainingslager-Destination, die ganzjährig fast perfekte Trainingsmöglichkeiten bietet.

Beim Istria 300 im Oktober warten mit meist rund 21 bis 23 Grad perfekte Sport-Temperaturen auf die Athleten. Weitere Informationen zu den Strecken und dem Event finden Sie hier.

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