Von Menschen & Kakerlaken
Auto- vs. Radfahrer: Respekt, Rücksichtnahme und Miteinander im Verkehr
in Sport & Gesellschaft
Sie sind langsam, diese Wesen auf zweirädrigen karosserie-, heizungs- und radiolosen Dingern draußen außerhalb meines Autos, deshalb verhindern sie mein Fortkommen, machen die vielen PS meines Motors für eine Weile – wertvolle Sekunden – nutzlos und stehlen meine Lebenszeit. Sie sind Hindernisse. Tiere. Dinge. Kakerlaken. So ist wohl, laut einer wissenschaftlichen Studie, die Sicht erschreckend vieler Autolenker auf jene Verkehrsteilnehmer, die langsamer und ungeschützt von einem Metallkokon auf „ihren“ Wegen und Straßen unterwegs sind: Radfahrer.
Forscher der australischen Monash University haben 442 Menschen dazu befragt, wie sie Radfahrer wahrnehmen. Dafür legten sie ihnen unter anderem zwei Illustrationen vor: Die eine zeigte die Entwicklungsschritte der Evolution vom Affen zum Homo sapiens. Die andere abgewandelte Version stellte eine fiktive Evolution von der Kakerlake zum Menschen dar. Der Grund für diese Wahl: Die Forscher fanden zuvor in sozialen Medien und Online-Foren zahlreiche verbale Angriffe auf Radfahrer, bei denen diese häufig mit den Insekten verglichen wurden.
Weiterhin sollten die Probanden auf Aussagen, in denen Radfahrer etwa mit Robotern, Maschinen oder anderen Objekten verglichen wurden, reagieren und angeben, ob und in welcher Form sie selbst bereits Aggressionen im Straßenverkehr gezeigt hatten.
Radfahrer „geringer als menschlich“
Die Ergebnisse: Rund die Hälfte der Nicht-Radfahrer unter den Probanden sehen Radfahrer im Straßenverkehr als „geringer als menschlich“ an. Der Grad dieser Entmenschlichung korrelierte signifikant mit jenem der bereits gezeigten Aggressionen. Jene Probanden, die auch selbst regelmäßig Rad fuhren, wiesen hier – erwartungsgemäß – die geringsten Werte auf. Insgesamt sahen 41 Prozent der Befragten Radfahrer als „less than human“ an.
Ein weiterer Befund: Mehr als jeder zehnte Studienteilnehmer gab an, im Auto bereits Radfahrer absichtlich mit zu geringen Abständen überholt, blockiert oder geschnitten zu haben. Laut der Hauptautorin, Alexa Delbosc, ist der Grund für diese Studie in sozialen Medien, auf Twitter und in den Online-Kommentarbereichen von Medien zu finden: Hass und Ausgrenzung. „Warum ist es okay, ‚Witze‘ darüber zu machen, Radfahrer zu verletzen, wenn solche Kommentare über andere Gruppen gesellschaftlich niemals toleriert werden würden?“, fragt sie. „Die Verbindung zwischen der Dehumanisierung von Menschen und Gewalt ist wissenschaftlich gesichert. Wenn man jemanden als weniger menschlich wahrnimmt, ist es psychologisch einfacher, Aggressionen und Ärger gegen diesen zu ‚rechtfertigen‘. Zwischen ethischen oder religiösen Gruppen hat dies sehr viel schrecklichere Auswirkungen – doch es scheint, als käme dieses Prinzip auch zwischen Auto- und Radfahrern zum Tragen.“
Der nächste Schritt ist es nun, Interventionen zu testen, mit denen man diese Dehumanisierung reduzieren kann. Konkret: Wege, mit denen man Radfahrern „ein Gesicht“ geben kann, sodass jeder Autolenker sie als Menschen wahrnimmt – und nicht als ein Etwas, ein Objekt, ein „störendes mechanisches Hindernis“.
Wut und mangelnde Empathie
Forscher der Technischen Universität Dänemark kamen nach einer Studie zu negativen Emotionen im Straßenverkehr zu ähnlichen Ergebnissen. „Alles weist darauf hin, dass Wut in einem klaren Zusammenhang mit mangelnder Empathie und Missverständnissen steht. Je mehr wir andere nur als Radfahrer auffassen statt als Menschen aus Fleisch und Blut, desto weniger vorsichtig verhalten wir uns“, sagt die Studien-Mitautorin Mette Møller.
„Wenn wir selbst wütend werden, glauben wir oft, dass uns das Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer erschreckt. Wenn wir jedoch beantworten sollen, warum andere sich aufregen, meint die Mehrzahl, dass diese sich und ihre Wut nicht im Griff haben. So oder so erhöhen Wut und Aggression das Risiko für Unfälle, da der Fokus nicht länger auf dem Verkehr liegt und diese Emotionen noch lange anhalten können.“
Mensch/Maschine
Die Medien-Berichterstattung zu Verkehrsunfällen stand im Mittelpunkt einer anderen Studie mit dem Titel „Framing systemic traffic violence“. Dafür analysierten die Forscher die Begriffe, den Kontext und die sogenannten „Frames“, die in 368 Meldungen zu Verkehrsunfällen in niederländischen Lokalzeitungen verwendet wurden.
Die Ergebnisse: In der Berichterstattung werden die Unfälle und die Opfer zumeist entmenschlicht dargestellt, es wird ein mechanistischer Ansatz gewählt, auf menschliche Tragödien wird kaum eingegangen. Die Zusammenstöße werden je als Einzelereignisse geframt und nicht in einen größeren Kontext gestellt. Zudem wird in den meisten Fällen mehr über die involvierten Fahrzeuge als über die betroffenen Menschen berichtet.
2020 starben 430 Radfahrer nach Unfällen auf deutschen Straßen. 15 weniger als im Jahr zuvor. Dieser Rückgang ist wohl auf den „Sondereffekt Corona-Pandemie“ zurückzuführen. Zuvor zeigte die Kurve steil bergauf: Allein innerhalb eines Jahres, zwischen 2017 und 2018, stieg die Zahl der getöteten Radfahrer hierzulande um 63. 2019 waren insgesamt 87.000 Menschen auf Fahrrädern in Unfälle verwickelt – ergo gilt: Fast jeder vierte verletzte Verkehrsteilnehmer und fast jeder siebte Verkehrstote war mit dem Rad unterwegs.
Sicherheit auf dem Rad
In einer landesweiten Umfrage des ADFC mit 170.000 befragten Radfahrern gaben diese der „Sicherheit auf dem Rad“ die Note 4,2. Zwei Jahre zuvor lag die Note noch bei 3,9. 81 Prozent der Befragten ist es demnach wichtig, auf dem Rad vom Autoverkehr getrennt zu sein. Knapp drei Viertel gaben an, dass sie Kinder nur mit einem schlechten Gefühl allein Rad fahren lassen.
Auch dies zeigt: Im Vergleich zu Ländern wie Dänemark oder den Niederlanden ist die Radinfrastruktur hierzulande unterentwickelt. Dies wurde bereits in mehreren Leitartikeln, etwa jenem in der RennRad-Ausgabe 6/2021, anhand von Studien und Statistiken dargelegt.
Sicherheit und Empathie
Umso wichtiger ist ein menschlicher Faktor: Empathie. Blickt man auf aktuelle Debatten, so scheint diese in weiten gesellschaftlichen Bereichen abzunehmen oder teils gar negiert zu werden. Der Hass, das Ab- und Ausgrenzen, das Entmenschlichen treten immer offener zutage. Die Grenzen des Sagbaren werden, im Rahmen einer öffentlich-diskursiven Eskalationsspirale und des Kampfes um Aufmerksamkeit, verschoben. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Krieges, des Kampfes gegen „andere“, des Eroberns oder Erobertwerdens. Frieden, Freiheit und Wohlstand sind alles – nur nicht selbstverständlich.
Im langen Zeitstrahl der Menschheitsgeschichte ist dieser Zustand nur ein regional begrenzter, 1945 bis heute, umfassender Fleck. Laut dem Harvard-Psychologen Steven Pinker leben wir in der friedlichsten aller bisherigen Epochen. Dazu führte er Berechnungen durch – mit dem Ergebnis: Wenn in den Kriegen des 20. Jahrhunderts ein gleich großer Bevölkerungsanteil umgekommen wäre wie in den vielen Konflikten innerhalb früherer Stammesgesellschaften, hätte dies nicht hundert Millionen Menschenleben gekostet, sondern zwei Milliarden.
Grenzen der Moralvorstellungen
Wie dünn die zivilisatorische Hülle über dem Chaos und wie klein der Schritt über die Grenzen der modernen Moralvorstellungen ist, zeigten unter anderem Studien wie das berühmte Milgram-Experiment von 1961. Der Versuchsaufbau: 40 Freiwillige wurden je nacheinander in einen Raum geführt, in dem ihnen ein „Versuchsleiter“ Anweisungen dazu gab, einem „Schüler“ bei falschen Antworten Stromschläge zu versetzen. Deren Intensität wurde nach jedem Fehler erhöht. Der „Schüler“ zeigte dabei immer größere Schmerzen und bat um Gnade. Das Stromgerät war eine Attrappe, der Schüler ein Schauspieler.
Das Ergebnis: 26 der 40 Probanden – ganz „normale Menschen“ – gingen bis zur maximalen Spannung von 450 Volt. Sie hätten den Schüler demnach töten können. Nur 14 brachen vorher ab. Das Experiment wurde 2006 noch einmal wiederholt – mit sehr ähnlichen Ergebnissen. Die Quintessenz: Auch modern sozialisierte Menschen setzen teils Anweisungen einer „Autorität“ über das eigene Gewissen. Oder anders gesagt: Fast jeder kann zum Täter, zum „Ausführer“ werden.
Stanford-Prison-Experiment
Noch berühmter ist das Stanford-Prison-Experiment, auch wenn es heute – unter anderem wegen seiner schwierigen Reproduzierbarkeit – in der Forschung kontrovers diskutiert wird: 24 von ihren Persönlichkeitstest-Ergebnissen her „normale“ beziehungsweise „durchschnittliche“ Studenten aus der Mittelschicht wurden per Münzwurf zufällig in zwei Gruppen eingeteilt – Wärter und Gefangene. Letztere unterschrieben Dokumente, in denen sie für die Versuchsdauer auf einige ihrer Grundrechte verzichteten, und sie erhielten Nummern statt Namen. Das Experiment war auf zwei Wochen angesetzt. Am Morgen des zweiten Tages brach ein Aufstand aus – und wurde niedergeschlagen. Danach erhielten unbeteiligte Sträflinge „Privilegien“. Nach einem halben Tag wurden die privilegierten mit den sanktionierten Gefangenen gemischt.
Das Ergebnis: Misstrauen und ein Bruch der Solidarität unter ihnen. Mehrere Wärter zeigten zunehmend sadistische Verhaltensweisen. Macht korrumpiert. Die Gruppe der Gefangenen war zerschlagen. Solidarität und Empathie waren zerstört. Jeder war auf sich allein gestellt – und damit machtlos. Nach nur sechs Tagen mussten die Forscher das Experiment abbrechen. Das jahrtausendealte Prinzip des „divide et impera“ – es funktioniert noch immer. Viel zu einfach. Sechs Tage reichten aus, um aus „normalen“ Menschen grausame Tyrannen oder konforme Untertanen zu machen.
Ein Hauptgrund dafür: die Deindividuation – das Reduzieren der Menschen auf ihnen zugewiesene Rollen. Und somit: das Absprechen des Menschseins. Das Wahrnehmen von Menschen als andere Wesen, andere Gruppen, Unwerte, „Feinde“. Der sozial-psychologische Mechanismus dahinter ist immer derselbe – derselbe, wenn Menschen in Autos andere Menschen auf Fahrrädern nicht als Menschen einordnen. Derselbe, der zu Unmenschlichkeiten führt. Zu diesem Prozess zählen das Ende der Solidarität und der Kommunikation sowie die Spaltung von Gesellschaften in Gruppen. Es ist ein Verhalten, das getriggert wird von und wechselwirkt mit einer Emotionalisierung, Infantilisierung, Personalisierung, Vereinfachung und Verrohung des Diskurses. Die Projektion von Frustration und Aggression auf andere kann so eine identitätsstiftende Funktion bekommen. Das Wir-gegen-Die, das Ausgrenzen und Nichtkommunizieren – es ist so „einfach“. Es bietet, scheinbar, Antworten – und vor allem Schuldige.
Lösungen und Schuldige
Einst wurde dieses Prinzip in folgenden legendären weisen Worten zusammengefasst: „In Krisenzeiten suchen Intelligente nach Lösungen, Idioten suchen nach Schuldigen.“
Das Ergebnis einer großen aktuellen Metaanalyse von Khan et al., für die Persönlichkeitsstudien mit rund 17.000 Probanden, Studenten in westlichen Ländern, aus dem Zeitraum zwischen 2001 und 2019 ausgewertet wurden, lautet: Die emotionale Intelligenz der Menschen nahm im Zeitverlauf deutlich ab. Besonders negativ entwickelten sich die Werte der Parameter „Wohlbefinden“, „Selbstkontrolle“ und „Emotionalität“. Zudem zeigten die Analysen, dass es in allen untersuchten Ländern einen Zusammenhang zwischen dem Zugang zu „Technologie“ und klar niedrigeren Wohlbefindens- und Selbstkontrollwerten gab.
Prinzip und Identität
Der Faktor Wohlbefinden umfasst etwa die positive Selbsteinschätzung, Glücksgefühle und Optimismus. Zur Selbstkontrolle zählt die Fähigkeit, eigene Gefühle und Impulse zu regulieren. Der Faktor Emotionalität beinhaltet die Fähigkeit, eigene und fremde Gefühle wahrzunehmen – und Empathie zu empfinden.
Die Autoren diskutieren technologisch-soziale Entwicklungen als potenzielle Ursachen. So würden etwa digitale Medien immer stärker „die persönliche Kommunikation ersetzen, was zu einer zunehmenden Einsamkeit führt (…) und soziale Vergleiche und Neid unter Gleichaltrigen erleichtert (…). Die persönliche soziale Interaktion bietet im Vergleich zur Online-Kommunikation eine größere Möglichkeit für emotionale Nähe und Bindung, deshalb ist es problematisch, wenn Menschen persönliche Interaktionen durch Online-Kommunikation ersetzen.“
Die gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen zwei Jahrzehnte – und damit auch die als Booster für die Digitalisierung und Vereinzelung wirkende Pandemie im Besonderen – könnten demnach für die „generationsbedingte Abnahme von Empathie und die Zunahme von Depressions- und Angstsymptomen“ verantwortlich sein. „Die Zivilisation ist ein dünner Firnis, darunter brodelt die Barbarei“, schrieb der Schweizer Soziologe Kurt Imhof. „Und sie ist abhängig von einer als Allmend verstandenen Öffentlichkeit, deren Auseinandersetzungen Mindeststandards nicht unterschreiten dürfen.“
Über das Niveau der aktuellen gesellschaftlichen Debatten und den Grad der darin transportierten Empathie, Güte, Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit kann sich jeder selbst Gedanken machen. Oder, vermutlich, nicht.
Dieser Artikel erschien in der RennRad 4/2022. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.
Leitartikel von Chefredakteur David Binnig aus 2022
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