Klassiker, Analyse, Fahrer, Teams
Klassiker 2022: Fahrer, Teams, Sieger – die Analyse

Machtwechsel

Klassiker 2022: Fahrer, Teams, Sieger – die Analyse

Neue Fahrer und neue Teams dominieren die klassischen Rennen. Von Supertalenten und Taktiken. Eine Saison-Analyse.
TEILE DIESEN ARTIKEL

Er geht nicht aus dem Sattel, er sprintet nicht – und wird doch immer schneller. Er fährt von vorne, an der ersten Position der Spitzengruppe. Dies ist das Finale beim Klassiker „Pfeil von Brabant“. Die Profis haben rund 190 der 205 Kilometer hinter sich. Nur die besten sind noch vorne. Magnus Sheffield fährt im Sitzen – und blickt sich um. Hinter ihm ist eine Lücke. Niemand kann ihm folgen. Er fährt weiter, gleichmäßig wie ein Moped – und erreicht das Ziel mit 37 Sekunden Vorsprung vor dem Zweiten. Dies ist nicht irgendein Sieg.

Dies ist ein Symbol. Jenes für einen Generations- und einen Machtwechsel. Magnus Sheffield ist zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt. Es ist sein erster großer Sieg bei den Profis. Doch: Es ist nicht nur sein Sieg. Er ist es, der eine absolut dominante Mannschaftsleistung umsetzt und zur Linie bringt: Er ist ein Teil des Teams Ineos Grenadiers – und ein Teil der neuen jungen Klassikerfahrer-Generation.

Klassiker: Neue Fahrer dominieren

Jahrelang waren es Namen wie Sagan, Gilbert, Van Avermaet, Terpstra, Stybar, Lampaert, die in den Ergebnislisten der Klassiker vorne auftauchten. Nun dominieren andere Fahrer – und andere Teams. Bis vor wenigen Jahren konnte man eine klare Trennung erkennen, zwischen den Teams, die im Frühjahr jene sind, über die der Sieg führt. Und jenen, die im Sommer um die Gesamtwertungen der großen Rundfahrten fahren.

Dies hat sich spätestens mit dem Aufstieg eines noch immer sehr jungen Fahrers geändert: Tadej Pogačar. Der zweimalige Tour-de-France-Sieger war auch in diesem Frühjahr fast immer, wenn er zu einem Rennen antrat, einer der stärksten Fahrer. Oder der stärkste. Auch wenn sich dies nicht immer in den Ergebnissen widerspiegelt. Sieben der neun Frühjahrs-WorldTour-Siege seines UAE-Teams gingen auf sein Konto. Der 23-Jährige begann die Saison mit zwei Etappen- und dem Gesamt-Sieg bei der UAE Tour.

Zwei Wochen später dominierte er die Konkurrenz bei Tirreno-Adriatico: Er gewann zwei Etappen, die Gesamt-, die Punkt- und die Nachwuchswertung. Dazwischen holte er sich einen Klassikersieg: bei Strade Bianche. Die Strecke: 184 Kilometer, 63 davon über die Schotterwege der Toskana, und 3100 Höhenmeter. Im Klassikermonat April gewann er zwar kein Rennen – doch er war oftmals der rennprägende Fahrer. Dem fünften Platz bei Mailand-Sanremo folgte Rang vier bei der Flandern-Rundfahrt. Er ging als Debütant in diesen brutal schweren Kopfsteinpflaster-Klassiker. Er war der stärkste Fahrer des Tages – und wurde am Ende dennoch „nur“ Vierter. Das Finale wurde zum Drama: An den Schlüsselanstiegen, am Oude Kwaremont und am Paterberg, attackierte er.

Klassiker, Analyse, Fahrer, Teams

Die bisherige Klassiker-Saison brachte einen Machtwechsel hervor

Bergfahrer und Klassiker-Spezialisten

Und nur einer konnte ihm folgen: Mathieu van der Poel. Zu zweit erreichten sie die Zielgerade. Pogačar blieb am Hinterrad des Niederländers. Dieser verschleppte das Tempo – so sehr, dass die beiden Verfolger, Dylan van Baarle und Valentin Madouas, kurz vor dem Ziel noch einmal herankamen. In jenem Moment beschleunigte van der Poel von vorne – und Pogačar wurde „eingebaut“.

Neben dem Slowenen war der Alpecin-Fenix-Kapitän einer der Gewinner des Frühjahrs. Obwohl dies noch zu Saisonbeginn kaum zu erwarten war: Nach seinen langwierigen Rückenproblemen im Winter war es lange nicht klar, ob van der Poel überhaupt rechtzeitig wieder fit werden würde. Die Cyclocross-Saison hatte er vorzeitig beenden müssen. Wochenlange Schonung statt intensivem Training war angesagt. Die Karriere war ernsthaft in Gefahr. Erst zwei Wochen vor der Flandernrundfahrt stieg er wieder in den Rennbetrieb ein. „Für diesen Sieg habe ich so hart gearbeitet, denn es gab so viele Zweifel, ob ich die Klassiker überhaupt würde fahren können. Und dann gewinne ich Dwars door Vlaanderen und die Ronde van Vlaanderen“, sagte er nach dem Rennen.

Sein Team Alpecin-Fenix hat „nur“ einen UCI-Pro-Team-Status – zählt jedoch mit elf Siegen im Frühjahr, darunter sechs Erfolgen in der WorldTour, bislang zu den Gewinnern der Saison. Großen Anteil daran haben neben van der Poel auch die beiden belgischen Top-Sprinter Jasper Philipsen und Tim Merlier, die jeweils drei Saisonsiege feierten. Auch van der Poels „Antagonist“, sein Dauerrivale seit den Jugendklassen, auf dem Renn- wie dem Cyclocrossrad, war – erwartungsgemäß – einer der Top-Fahrer des Frühjahrs: Wout van Aert. Der 27-jährige Belgier ist, neben dem Slowenen Primož Roglič, der „Überfahrer“ des Top-Teams Jumbo Visma. Der Slowene gewann nach zwei knappen „Niederlagen“ das Etappenrennen Paris-Nizza und siegte beim Auftakt-Zeitfahren in der Baskenland-Rundfahrt. Dort aber bekam er Knieprobleme, sodass er weitere Frühjahrsrennen absagen musste und nicht bei den höhenmeterreichen Ardennen-Klassikern, bei denen er zu den Top-Favoriten gezählt hätte, antreten konnte. Wout van Aert startete mit einem Sieg beim Omloop Het Nieuwsblad in die Saison, dem er einen Etappensieg bei Paris-Nizza und Platz eins beim E3-Preis in Harelbeke folgen ließ. Dann erkrankte der Belgische Meister an Covid-19. Nach einer Pause fuhr er auf Platz zwei bei Paris-Roubaix und auf Platz drei bei Lüttich-Bastogne-Lüttich.

Klassiker 2022: Aufsteiger und Verlierer

Doch das „Überraschungsteam“ des Frühjahrs ist: Ineos Grenadiers. Einst hatte die Equipe einen Hauptfokus, dem alles untergeordnet wurde: den Gesamtsieg bei der Tour de France. Mit 20 Siegen im Frühjahr zählte die britische Equipe zu den Top-Teams. Zwei davon wurden bei großen Klassikern eingefahren. Das Finale des Amstel Gold Race dominierten sie – und am Ende war es ein Routinier, der gewann: der polnische Ex-Weltmeister Michał Kwiatkowsi, 31. Zusammen mit dem Franzosen Benoît Cosnefroy fuhr er einen Vorsprung von rund 20 Sekunden auf eine Gruppe um Mathieu van der Poel heraus. Kwiatkowski siegte nach einem Endspurt, der erst nach der Auswertung des Zielfotos zu seinen Gunsten entschieden wurde. Die besondere Tragik war, dass Cosnefroy nur drei Tage später erneut von einem Ineos-Fahrer geschlagen wurde: Von einem 19-Jährigen.

Dem US-Amerikaner Magnus Sheffield. Er vollendete eine herausragende Mannschaftsleistung seines Teams – und sorgte für einen deutlichen Hinweis auf die Wachablösung an der Spitze der Leistungspyramide. Sheffield ist einer der jüngsten Vertreter einer neuen Generation junger Siegfahrer. Wie auch drei andere von den Profis, die den Sieg beim Brabantse Pijl unter sich ausmachten. Am Ende waren vier der besten sechs Fahrer 22 Jahre oder jünger. Die größte Überraschung darunter: der Brite Ben Turner. Der 22-Jährige zählt zu den „Entdeckungen“ des Frühjahrs. Dabei bestreitet er erst seine erste Saison in der WorldTour. Bei Dwars Door Flaanderen wurde er Achter, bei Paris-Roubaix Elfter, beim Brabantse Pijl Vierter.

Ein Platz vor ihm war: sein gleichalter Team-Kapitän, Tom Pidcock. Der junge Brite – der bei den Spielen von Tokio Olympiasieger im Mountainbike-Cross-Country wurde – hat sich bereits im Vorjahr mit seinem Sieg bei Brabantse Pijl und seinem zweiten Platz beim Amstel Gold Race in der Weltspitze etabliert. Das Team Ineos Grenadiers hat sowohl eine Jugend- als auch eine Klassiker-Strategie – und beides funktioniert. Die Briten sind die großen Gewinner der Frühjahrssaison 2022. Zu den „Verlierern“ zählen, so paradox es klingen mag, die Fahrer jenes Teams, das die meisten Siege einfuhr: die belgische Equipe Quick-Step-Alpha Vinyl. Unter den 21 Siegen bis zum Klassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich waren „nur“ sechs der obersten Kategorie. Anders als in früheren Jahren war, zunächst, kein Klassiker-Sieg darunter – sondern etwa Etappensiege bei Paris-Nizza oder der Baskenland-Rundfahrt.

RennRad 7/2022, Banner

Hier können Sie die RennRad 7/2022 als Printmagazin oder E-Paper bestellen

Siege und Ziele

Ein Grund dafür: das Verletzungs- und Sturz-Pech des Team-Kapitäns und Weltmeisters Julian Alaphilippe. Während des Ardennen-Klassikers Lüttich-Bastogne-Lüttich war er in einen schweren Massensturz verwickelt, bei dem er sich zwei Rippen und das Schulterblatt brach. Dadurch war der Weg frei für seinen Teamkollegen: Remco Evenepoel. Der 22-jährige Belgier attackierte an der legendären Côte de la Redoute, fuhr 14 Kilometer als Solist – und erreichte das Ziel mit 48 Sekunden Vorsprung. Mit diesem Sieg rettete er die Frühjahrsbilanz seines Teams. Über Jahre hinweg dominierten die Quick-Step-Fahrer die schweren Eintagesklassiker. In dieser Saison waren sie nur selten ein Faktor. Auch für Evenepoel persönlich war dieser Sieg eine Erlösung. Fast zwei Jahre hat es gedauert, bis er sich nach einem schweren Sturz bei der Lombardei-Rundfahrt wieder an die absolute Weltspitze gearbeitet hat. Davor galt er als „Überfahrer“, als neuer „Eddy Merckx“. Er sagte dazu lapidar: „Du kannst noch so talentiert sein, aber du brauchst den Kopf und den Willen, weiter hart zu arbeiten und dich zu verbessern.“

Einige Mannschaften – insgesamt fünf – blieben im Frühjahr ohne einen Sieg in der WorldTour. Die Fahrer der deutschen Equipe Bora-Hansgrohe holten elf Siege – drei davon waren Gesamtsiege bei Rundfahrten. Und: Neun davon wurden von Neuzugängen eingefahren. Die Umstrukturierung des Teams und der Ziele scheint zu funktionieren. So gewann Aleksandr Vlasov die Valencia-Rundfahrt und die Tour de Romandie. Der Kolumbianer Sergio Higuita siegte bei der Katalonien-Rundfahrt.

Ein anderer Gewinner der ersten Saisonhälfte ist: Lennard Kämna. Der 26-Jährige gewann je eine Etappe der Andalusien-Rundfahrt und der Tour of the Alps – und des Giro d’Italia. Eine der spannenden Fragen der näheren Zukunft lautet: In welche Richtung wird sich Lennard Kämna entwickeln? Fakt ist: Er ist wohl noch sehr lange nicht am Ende seines Potenzials.

Dieser Artikel erschien in der RennRad 7/2022Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

Schlagworte
envelope facebook social link instagram