24 Stunden EM
24-Stunden-Rennen: Training und Report der Ultracycling-EM
in Race
Es ist nach Mitternacht – ich sitze seit mehr als 15 Stunden auf dem Rad – und ich fahre rund 40 km/h, als es plötzlich stockdunkel wird. Ich rase durch die Dunkelheit, fast blind. Mein Haupt-Akkulicht ist ausgefallen. Ich sehe so gut wie nichts mehr. Trotz des kleinen Notlichts an meinem Helm. Dessen Leuchtkraft wirkt wie eine schwimmende flackernde Kerze auf einem Ozean, einem schwarzen Meer der Dunkelheit.
Die Nacht ist lau, 16 Grad und stockdunkel. Ich fahre durch die Natur, abseits elektrischen Lichts. Anhalten oder langsamer fahren sind keine Optionen. Also bleibt mir nur eines: Weiterfahren, mich an den immer wieder in dem winzigen Lichtkegel meiner Lampe auftauchenden weißen Mittel- und Seitenstreifen orientieren – und auf mein Glück hoffen. Ich kenne inzwischen jeden Meter dieser Strecke, denn dies ist meine 14. Runde auf diesem Kurs.
Ich weiß, was mich als Nächstes erwartet: eine schnelle Abfahrt mit 50, 60 km/h. Rechts ragt ein Kanaldeckel hervor, also halte ich mich schon vor der Bergabpassage links. Ich gehe im Kopf durch, wie ich lenken muss – eine scharfe Rechtskurve, eine kurze Steigung, die nächste Kurve – als plötzlich Scheinwerfer vor mir auftauchen: Ein Auto biegt aus einer Hofeinfahrt. Ich bremse, reiße an meinem Lenker, fahre nach links, schreie und sehe mich vor meinem geistigen Auge innerhalb einer Zehntelsekunde schon über die Motorhaube fliegen, als das Auto 30 Zentimeter vor mir zum Stehen kommt. Meine aktuelle Herzfrequenz: 190 Schläge pro Minute.
Motivation und Material
Das Adrenalin pumpt durch meine Adern. Ich bin wieder hellwach und zu geschockt, um wütend oder glücklich zu sein. Der PKW-Fahrer hatte mich sicher nicht gesehen. Ich halte nicht an, sondern versuche meine Energie in Vortrieb beziehungsweise Kilometer umzuwandeln. Ein paar Kilometer weiter steht ein Auto, dessen Warnblinker leuchten, daneben sitzt ein Radfahrer am Boden.
Aber als ich näherkomme und frage, ob ich helfen kann, gibt der Offizielle Entwarnung: Es ist nur ein platter Reifen. Wieder ein paar Kilometer weiter springt meine Kette herunter und verklemmt sich. Erst nach zwei Minuten des Ziehens und Fluchens schaffe ich es, sie wieder auf das Kettenblatt zu bekommen. Bisher habe ich wenig gedacht – beziehungsweise: nur das Nötigste, an das Überlebensnotwendige, Essen, Trinken, die Fahrlinie, das Schalten. Doch jetzt kommen Fragen in meinem Kopf auf, die ich versuche, von mir wegzuschieben: Was machst du hier? Warum riskierst du hier deine Gesundheit? Warum liegst du gerade nicht im Bett oder isst ein perfekt gebratenes Steak?
Die härteste Phase steht noch bevor
Meine Betreuer warten schon unruhig in der Verpflegungszone, auf mich denn: So lange hatte ich noch für keine Runde gebraucht. Ich schreie schon von Weitem, dass ich ein neues Licht brauche. Während des kurzen Stopps bekomme ich ein Langarmtrikot und lange Handschuhe. Aufsitzen. Weiterfahren. Ich weiß: Die härteste Phase steht mir noch bevor. Warum tue ich mir das an?
Sechs Wochen zuvor wurde die Entscheidung bekannt: Das Rennen, für das ich trainiert habe, findet statt – die Europameisterschaft im 24-Stunden-Radrennen in Montello, Italien. Erst ab diesem Zeitpunkt ist klar: Ich habe nur noch sechs Wochen Zeit – für alles. Für das finale Training, das Tapering, die Organisation, das Finden eines zwei- bis dreiköpfigen Betreuerteams. An das Rennen habe ich gute Erinnerungen, da ich im April 2010 dort bei widrigsten Wetterverhältnissen – mit starken Gewittern und einem Temperatursturz von 22 auf sechs Grad – Vize-Europameister im Ultracycling wurde.
Aber: Im Vorjahr 2019 hatte ich dort einen schweren Sturz. Nachts sprang ein Reh direkt vor mir auf die Straße. Ich bremste, stürzte, verletzte mich und musste wochenlang pausieren. Ab dem vergangenen Winter trainierte ich für das Rennen in Montello. Bis dann Mitte März alles durch die Corona-Pandemie infrage gestellt wurde. Mit jeder Woche der Ungewissheit veränderte sich etwas in meinem Kopf – und an meiner Motivation: Das Training verlor für mich seinen Sinn. Denn: Ich brauche ein Ziel. Auch wenn der Radsport für mich „nur“ ein Hobby ist, neben meiner Familie und einem Vollzeitjob.
Hitze und Krämpfe
Seit die Meldung kam, dass mein Saisonziel ausgetragen wird, hat sich in meinem Kopf ein Schalter umgelegt: Ich bin fokussiert und entwickle eine Art Tunnelblick. Doch: Meine Vorbereitung läuft alles andere als rund. Ich bekomme muskuläre Probleme. Erst durch die Hilfe meiner Physiotherapeuten komme ich wieder auf Kurs. Irgendwie bekomme ich alles organisiert – vom Begleitauto über die Hotels bis zum Material. Dennoch habe ich eine unruhige letzte Nacht zu Hause, bevor wir am nächsten Morgen nach Italien reisen. Ist alles eingepackt? Kleidung? Nahrung? Getränke? Lampen? Akkus?
Montello ist eine kleine Gemeinde in der Provinz Bergamo, hat 3300 Einwohner und liegt rund 60 Kilometer nordöstlich von Mailand. Als wir nach zehn Stunden Fahrt aus dem klimatisierten Kleinbus steigen, trifft mich fast der Schlag: Hitze, 35 Grad im Schatten. Eine Stunde später sitze ich auf meinem Rad – erst auf dem Aero-Renn-, dann auf dem Zeitfahrrad – und rolle über die 33,5 Kilometer lange Rennstrecke. Das Ergebnis meines kleinen Tests ist eindeutig: Das Zeitfahrrad macht das Rennen. Auf ihm fühle ich mich wohler und die Rundenzeit ist deutlich schneller. Danach heißt es: Duschen, Essen, zwei Pizzen, und Schlafen – was angesichts der Hitze nicht so einfach ist.
Am Freitag schlafe ich wie geplant aus. Der weitere Tagesverlauf: Essen, Testen, Rollen, Veranstalter-Briefing, Startnummer-Abholen, Bike-Check, Essen. Der nächste Morgen, der Tag des Rennens. Meine Startzeit: 9:02 Uhr. Ich rolle los – und denke nichts, außer daran, wie ich die nächste Kurve ansteuern soll. Die ersten Runden laufen perfekt, was die Verpflegungsübergabe und die Versorgung anbelangt, nur die extreme Hitze macht mir zu schaffen. Das Thermometer zeigt: 40, 41 Grad. Nach vier Stunden spüre ich erste starke Krämpfe. Ich esse und trinke und versuche, auf dem Rad dagegen anzudehnen. Ich fahre weiter. Und weiter. Während der ersten elf Stunden halte ich kein einziges Mal an.
Sekundenschlaf und Finale
Eine Stunde vor dem Sonnenuntergang steige ich zum ersten Mal neben meinen Betreuern in der Start- und Zielpassage vom Rad. So, wie es vorgeschrieben ist. Denn jetzt müssen die Akku-Lichter montiert werden und ich muss eine reflektierende Warnweste über mein kurzes, längst salzverkrustetes Trikot ziehen. Es ist noch immer extrem schwül, die Luft steht, sodass das Atmen schwerfällt. In der Ferne sieht man die ersten Blitze, es scheint ein Gewitter aufzuziehen. Ich sehne den Regen herbei. Doch während mehr als zwei Stunden sehe ich die Licht-Show von Hunderten Blitzen, die die Nacht erhellen – aber der Regen bleibt aus. Bis der Himmel plötzlich die Schleusen öffnet und ein Starkregen über uns hereinbricht.
Innerhalb von fünf Minuten ändert sich mein Zustand von „nahe an der Überhitzung“ hin zu „frieren und zittern“. Die Temperatur sinkt auf nur noch 15, 16 Grad. In den nächsten Kurven spüre ich, wie mein Hinterradreifen etwas ins Rutschen gerät. Ich kann gerade noch gegenlenken.
Risikominimierung
Der Fahrbahnbelag und das darauf liegende Laub werden fast „seifig“. Ich minimiere mein Risiko und fahre langsamer durch die Kurven. Es regnet den Rest der Nacht lang durch. Noch drei, vier, fünf Stunden. Der Morgen graut. Die Strecke trocknet schnell ab. Ich weiß, dass ich im Finale bin. In Gedanken zähle ich einen Countdown herunter: „Nur noch fünf Runden, nur noch 168 Kilometer. Also fast nichts. Schlusssprint.“
Doch: Ich werde immer müder. Ein, zwei Mal falle ich in einen Sekundenschlaf. Bei der nächsten Zieldurchfahrt schütten mir meine Betreuer Eiswasser über den Kopf. Trotz meiner Müdigkeit überhole ich ab und an andere Fahrer. Was mir jedes Mal einen Push gibt. Ich versuche, Selbstgespräche zu führen und mich wachzuhalten. Dann sehe ich es: Ich komme in meine letzte Runde und gehe kein Risiko mehr ein, denn ich weiß: Ich bin vorne dabei – auf Medaillenkurs. Fünf Kilometer bis zum Ziel, vier, drei, zwei. 200 Meter vor der Linie stehen meine Betreuer mit einer Bayern-Flagge und überschütten mich mit Sekt. Sie brüllen nur eines: „Vize-Europameister!“ Nach 20 Runden, 670 Kilometern und 9200 Höhenmetern. Nach einem Tag und einer Nacht. Nach Leid und Triumph. Nach einer Phase, die ich noch einmal erleben will. Immer wieder.
Diesen Artikel lesen Sie in der RennRad 1-2/2022. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.
Die 24-Stunden-EM
Der Start- und Zielort: Santa Maria della Vittoria liegt rund 60 Kilometer nördlich von Venedig. Der Rundkurs ist 33,5 Kilometer lang und führt über 460 Höhenmeter um den Berg „Montello“.
Vom Start weg geht es fast fünf Kilometer lang nur bergab. Es folgt eine relative flache Passage, die rund 17 Kilometer lang ist – bevor man den Scharfrichter der Strecke erreicht: Den elf Kilometer langen kurvenreichen und unrhythmischen Anstieg, der mitunter von kurzen Abfahrten unterbrochen wird. Gestartet wird in Minutenabständen. Das Windschattenfahren ist verboten. Weitere Informationen finden Sie hier: www.24hmontello.it
24-Stunden-Rennen: Extrem-Events
Kelheim: Das 24-Stunden-Radrennen wurde 1997 erstmalig ausgetragen. Der Benefizgedanke steht dabei im Vordergrund. Kelheim in Niederbayern wartet zudem mit der Benediktinerabtei Weltenburg, der ältesten Klosterbrauerei der Welt und dem Weißen Brauhaus, der ältesten Weißbierbrauerei Bayerns, auf. Die Runde: 16,4 Kilometer, 170 Höhenmeter. Das Datum: 9. Juli 2022. www.race-24.de
Rad am Ring: Auch das Rennen auf dem legendären Nürburgring hat Tradition. Es existiert seit mehr als zehn Jahren. Die Strecke ist besonders anspruchsvoll. Sie führt durch die „Grüne Hölle“ der Nordschleife. In der Abfahrt der „Fuchsröhre“ sind dreistellige km/h-Zahlen keine Seltenheit. Die Runde: 26 Kilometer, 580 Höhenmeter. Maximalsteigung: 17 Prozent. Das Datum: 22. Juli 2022. www.radamring.de
Bikingman: Die Rennserie mit Gravel- und Asphaltstrecken-Events umfasst im Jahr 2022 sieben Austragungen mit Streckenlängen um 1000 Kilometer. Die Strecken befinden sich in der Auvergne, auf Korsika, dem Baskenland, in Portugal und sogar in Brasilien. Das Datum: 2. Mai bis 26. September 2022. www.bikingman.com
Glocknerman: Die Strecke dieser bekannten Ultraradmarathon-Weltmeisterschaft führt von Graz bis zum Großglockner und wieder zurück. Bei der Ultradistanz legen die Teilnehmer 1000 Kilometer mit 16.000 Höhenmetern zurück. Über den legendären Großglockner-Pass müssen die Langdistanzfahrer dabei sogar zwei Mal. Das Datum: 8. Juni 2022. www.glocknerman.at
Transpyrenees: Das Rennen führt ohne äußere Unterstützung über 1080 Kilometer durch die Pyrenäen. 33 legendäre Anstiege der Tour de France und der Vuelta liegen auf der Route, darunter der Col du Tourmalet und der Col d‘Aubisque. Das Datum: 25. Juni 2022. www.transiberica.club/transpyrenees