Revolution
Talente im Radsport: Evenepoel, Pogačar & Co – junge Profis mit Top-Leistungen
in Race
Mit 18 Jahren – und 14 und 63 Sekunden – schreibt er Geschichte: Die beiden Sekundenzahlen beziffern je seinen Vorsprung auf den Zweitplatzierten bei zwei der wichtigsten Eintagesrennen für Nachwuchsfahrer: die Piva Trophy und den Giro del Belvedere in Italien. Die beiden italienischen Semi-Klassiker-Rennen finden direkt nacheinander statt. Juan Ayuso trat an beiden aufeinanderfolgenden Tagen an – und lieferte zwei Mal dieselbe Show: Er attackierte je im Finale, hielt seinen Vorsprung, und kam durch. Als Solo-Sieger.
Und als je einer der jüngsten Gewinner überhaupt. Er ist erst der zweite Fahrer, dem dieses italienische Double gelang. Der erste ist: Yaroslav Popovych. Der Ukrainer war der überragende Nachwuchsfahrer seiner Generation. Er wurde U23-Weltmeister und fuhr elf Jahre lang als Radprofi für die Teams Discovery Channel, Astana, Lotto, Radioshack und Trek. Zwei Monate später trat Juan Ayuso bei einem der beiden wichtigsten Rennen der U23-Klasse an, dem „Baby Giro“, dem Giro d’Italia für Nachwuchsfahrer – und gewann drei der zehn Etappen sowie die Gesamtwertung mit rund drei Minuten Vorsprung.
Noch 2020 fuhr Ayuso in der Junioren-Klasse gegen andere 17- und 18-Jährige mit einer Übersetzungsbeschränkung und maximal einem 14er Ritzel hinten. Der Spanier aus Javéa an der Costa Blanca steht somit symbolisch für eine aktuelle, extrem auffällige Entwicklung des Profi-Radsports: Die Rennen werden von immer jüngeren Fahrern mitbestimmt. Immer mehr sehr junge Sportler wechseln schon sehr früh in die World Tour – und können sich dort bereits enorm schnell als konkurrenzfähig, oder mehr, etablieren. Ein Novum.
Evenepoel, Pogačar, Ayuso
„Juan Ayuso ist mit Tadej Pogačar zu vergleichen“, sagt Joxean Matxín Fernández, der Manager des Teams UAE Emirates. Wohl deshalb kam es zu einem extrem ungewöhnlichen Vertragsabschluss: Ayusos Vertrag mit dem Team UAE läuft über fünf Jahre. Ein Standard-Vertrag für Neuprofis umfasst nur zwei Jahre. Wem man einen Fünf-Jahres-Vertrag anbietet, von dem muss mal wohl extrem überzeugt sein.
Der Vertrag, den Remco Evenepoel im April unterschrieb, umfasst: fünf Jahre. Der heute 21-jährige Evenepoel ist wohl das herausragendste Beispiel – und der herausragende Fahrer – der „Jugend-Welle“. Er ist ein Symbol für die extreme Leistungsfähigkeit derart junger Fahrer.
Der Belgier war Fußballspieler – für das U15- und U16-Nationalteam und die Nachwuchsmannschaft des Topklubs RSC Anderlecht. Erst mit 17 Jahren fuhr er seine ersten Radrennen. Und gewann fast alle. Genauer: Innerhalb seiner ersten 18 Monate als Radsportler siegte er bei 34 der 44 Rennen, bei denen er an den Start ging. Das Rennen um die Junioren-Europameisterschaft 2018 gewann er als Solist – mit einem unglaublichen Vorsprung von fast zehn Minuten. Im selben Jahr startete er bei vier Rundfahrten. Und gewann alle vier. Sein Vorsprung auf den Zweiten im WM-Zeitfahren und im WM-Straßenrennen: je rund 1,5 Minuten.
2019, in seinem ersten Jahr in der Männerklasse, wurde er Vierter der Türkei-Rundfahrt, Zweiter im WM-Zeitfahren – und gewann die Clásica San Sebastián, die Belgien-Rundfahrt sowie das EM-Zeitfahren. Im Jahr darauf startete er bei vier Rundfahrten – und gewann alle vier. Doch es folgte ein schwerer Sturz bei der Lombardei-Rundfahrt, bei dem er sich die Hüfte brach. Er wäre einer der Top-Favoriten für den Giro d’Italia gewesen. Für seine erste Grand Tour.
Mikel Landa, der Vierte der Tour de France 2020, sagt über ihn: „Wir müssen jetzt noch so viele Rennen wie möglich gewinnen, denn in zwei, drei Jahren wird er unschlagbar sein.“ Wie lange werden „Überfahrer“ und „Jahrhunderttalente“ wie er dieses Leistungsniveau halten können? Werden sie sich von Jahr zu Jahr steigern? Und wie? Und warum gibt es so viele und so junge Top-Talente seit Evenepoels Aufstieg? Es ist nicht nur ein Jahrhundert-Talent, das die etablierten Weltklasse-Fahrer abhängt. Es sind viele – und es werden mehr.
Talente mit Top-Resultaten
Um nur einige der jungen Profis zu nennen, die bereits Top-Resultate eingefahren haben, hier eine unvollständige Aufzählung: Ilan Van Wilder. Der 20-jährige Belgier wechselte nach nur einem Jahr in der U23-Klasse in die World Tour zum deutschen Team DSM. In dieser Saison fuhr er unter anderem bei der Tour de Romandie drei Top-Ten-Ergebnisse ein. Mauri Vansevenant, 22 – er fährt seit Juli 2020 für Deceuninck-Quick-Step und gewann in diesem Jahr den GP Industria & Artigianato.
Natnael Tesfatsion – der 22-Jährige gewann im vergangenen Jahr die Tour du Rwanda und fährt nun für die italienische Androni-Giocattoli-Mannschaft. Matteo Jorgenson, Movistar, ist 22 Jahre alt und wurde Achter bei Paris-Nizza.
Andrea Bagioli – ebenfalls 22, Deceuninck-Quick-Step ist ein Allrounder: Er gewann die Royal Bernard Drome Classic 2021 als Solist und schlug 2020 bei der Tour de l’Ain Primož Roglič im Sprint einer größeren Gruppe. Jake Stewart – 21, Groupama-FDJ, ist ein Sprinter und Klassiker-Fahrer. In dieser Saison wurde er unter anderem Zweiter des Omloop Het Nieuwsblad.
Tom Pidcock – schon zu Beginn seiner ersten Profi-Saison holte der 21-jährige Brite aus dem Ineos-Team Resultate, auf die andere Top-Profis ihre ganze Karriere über hinarbeiten: Dritter bei Kuurne-Brüssel-Kuurne, Fünfter bei Strade-Bianche, 15. bei Mailand-Sanremo, Zweiter beim Amstel Gold Race, Sieger des Pfeils von Brabant. Im finalen Bergauf-Sprint schlug er dabei extrem souverän den belgischen Top-Favoriten und Weltklasse-Profi Wout Van Aert. Was für ein Einstieg in die World-Tour-Karriere. Was für ein Versprechen.
Der Weg zum Radprofi
Juan Ayuso gewann den Giro del Belvedere, die Trofeo Piva und den „Baby Giro“ noch im Trikot des Continental-Teams Colpack, für das er die erste Saisonhälfte bestritt. Bereits Mitte Juni dieses Jahres wechselte er zum World-Tour-Team UAE. Bei seinem ersten Profi-Rennen, und seinem ersten in der Männer-Klasse, der Classica Valenciana, kam er mit der ersten Gruppe als 22. an. Bei seiner ersten Profi-Rundfahrt, der Settimana Internazionale Coppi e Bartali, wurde er einmal Etappen-Fünfter, einmal -Sechster und Gesamt-17.
Die Altersstruktur der ersten 25 Fahrer der Gesamtwertung: 24, 24, 26, 22, 22, 34, 20, 33, 26, 21, 21, 27, 26, 26, 22, 22, 18, 24, 21, 25, 24, 19, 21, 21, 25. Zwölf Fahrer, die 22 oder jünger sind in den Top-25. Dieses Ergebnis ist eine Momentaufnahme – doch es ist auch das Zeichen einer großen Entwicklung. Einer Umwälzung. Einer Revolution. Das Wort „Generationswechsel“ ist für das, was im Profi-Radsport aktuell geschieht, eine Untertreibung. „Dass ich während der Rundfahrt bei einer Etappe auf einmal mit solchen Top-Profis wie Mauri Vansevenant in der Spitzengruppe fuhr, war wie ein Schock“, sagt Ayuso. „An diesem Tag habe ich viel Selbstvertrauen gewonnen und es ist jeden Tag noch etwas gewachsen. Für die Zukunft hoffe ich, im Team UAE viel zu lernen. Ich habe volles Vertrauen in meinen Trainer, Iñigo San Millán und bin sehr glücklich, mit ihm zu arbeiten. Er ist ein Genie. Und ich habe keinen Zweifel daran, dass er mich auf den richtigen Weg führen wird.“
Iñigo San Millán ist ein Professor der University of Colorado und der Leiter des Trainerstabs des Teams UAE. Zuvor arbeitete er für die Teams Garmin, Astana, ONCE und die in mehrere Doping-Fälle verstrickte Equipe Saunier-Duval.
Ayusos Beginn
Juan Ayuso begann mit sieben Jahren mit dem Radsport. Seine ersten internationalen Rennen fuhr er erst 2019. Bei fünf dieser elf Rennen fuhr er unter die besten sechs. Jenes um die spanische Meisterschaft gewann er. Im Vorjahr siegte er bei drei der fünf Rennen, bei denen er startete. Darunter waren die beiden nationalen Meisterschaften – im Straßenrennen und im Zeitfahren. Ayuso ist einer von immer mehr Fahrern, die die U23-Klasse quasi komplett „überspringen“ – und direkt von den Junioren zu den Profis wechseln.
Die anderen Athleten, die diesen ungewöhnlichen Weg in den vergangenen drei Jahren gingen, heißen: Remco Evenepoel, Quinn Simmons, der Junioren-Weltmeister von 2019, Antonio Tiberi, Junioren-Zeitfahrweltmeister in Harrogate 2019, Carlos Rodríguez, der zu Ineos Grenadiers wechselte und Vierter der Andalusien-Rundfahrt 2021 wurde, Andrii Ponomar, der jüngste Giro-Starter seit fast einem Jahrhundert, der Gewinner des Nachwuchsrennens Giro della Lunigiana 2019, Andrea Piccolo und der Deutsche Marco Brenner. Ein Interview mit dem Augsburger finden Sie in der RennRad-Ausgabe 10/2020.
Sprung für Talente ist groß
Jahrzehntelang galt: Der Sprung von der Junioren- in die U23-Klasse ist enorm groß. Die Rennen werden viel länger, die Geschwindigkeiten höher, die Übersetzungen und die Trainingsumfänge größer. Meist hatten die Fahrer der „älteren“ Jahrgänge, die 21- und 22-Jährigen, klare Leistungsvorteile gegenüber den „Erst- und Zweitjährigen“. Man brauchte die U23-Jahre, um sich zu entwickeln, um Renn-Kilometer und Renn-Härte zu sammeln. Erst am Ende dieser U23-Phase wechselten die Besten zu den Profis, um in der Regel ein, zwei, drei, vier Saisons lang zu lernen, sich weiterzuentwickeln und an das Tempo, die Distanzen und die kurzen Regenerationszeiten zu gewöhnen. Und um für die älteren, etablierten, erfahrenen Kapitäne zu arbeiten. So dachte man. So war es „normal“.
Doch was ist heute schon normal? Der US-Amerikaner Quinn Simmons fuhr 2019 als Solist zum Junioren-Weltmeistertitel – und leistete dabei mehreren nicht offiziell bestätigten Berichten zufolge über 49:56 Minuten hinweg eine normalisierte Leistung von 419 Watt. Was einer relativen Leistung von 5,8 Watt pro Kilogramm entspricht. Ein schier unglaublicher Wert für einen 18-Jährigen.
Talente im Radsport: Leistungen und Ergebnisse
In seinem neuen Team UAE Emirates trifft Juan Ayuso auf weitere Top-Talente – etwa den US-Amerikaner Brandon McNulty, 22, den dreimaligen U23-Zeitfahrweltmeister Mikkel Bjerg, 22, und auf zwei der jungen „Wunderfahrer“ ihrer Generation. Zwei Fahrer, die den gesamten Profi-Radsport mitbestimmen und dominieren: Marc Hirschi, 22, Flèche-Wallonne- und Tour-Etappensieger 2020 und Tadej Pogačar, 22, der Tour-Sieger, aktuell einer der beiden besten Rundfahrer der Welt.
Pogačar ist ein Phänomen, ein Ausnahmefahrer. Einer, der bei seinen ersten beiden Grand-Tour-Teilnahmen die Plätze drei bei der Vuelta, und eins bei der Tour de France belegte. Er ist der jüngste Fahrer aller Zeiten, der die Tour und gleich drei Wertungstrikots gewann: das Gelbe, das Weiße, das Rot-Gepunktete. Er ist der erste damals 20-Jährige, der bei einer Vuelta gleich drei Etappensiege holte. Und er ist der Rekordhalter für die schnellsten Auffahrt-Zeiten an mehreren legendären Tour-de-France-Anstiegen. Etwa jene für den Col de Peyresourde: Er absolvierte die 9,7 Kilometer bergauf in 24 Minuten und 35 Sekunden. In den 10:25 Minuten nach seiner entscheidenden Attacke leistete er laut Berechnungen anhand seiner Strava-Daten durchschnittlich 447 Watt – was 6,77 Watt pro Kilogramm Körpergewicht entspricht. Schon am zweiten Berg dieser Etappe, dem Port de Balès, fuhr er 30 Minuten lang durchschnittlich mit 404 Watt – mit 6,1 Watt pro Kilogramm.
Pogačar gewann die Tour de France einen Tag vor seinem 22. Geburtstag. Und war damit noch jünger als sein Vorgänger: Egan Bernal. Bereits der Sieg des Kolumbianers war eine Sensation. Er war am Tag seiner Triumphfahrt über die Champs Élysées in Paris 22 Jahre und 196 Tage alt – und damit zu diesem Zeitpunkt der jüngste Toursieger seit 1909.
Das Durchschnittsalter aller Tour-Sieger beträgt: 28,5 Jahre. Das „Höchstleistungsalter“ im Radsport liegt, so lautet der sportwissenschaftliche Konsens, bei rund 27 bis 30 Jahren. Dann sind die körperlichen Parameter wie etwa die maximale Sauerstoffaufnahme auf ihrem Höhepunkt. Die VO2max beginnt bereits zwischen dem 25. und dem 30. Lebensjahr abzunehmen. Mit zunehmendem Alter begrenzen vor allem die verminderte aerobe Kapazität, das zunehmende Körperfett und die abnehmende Muskelmasse die Leistung.
Die Talente-Suche
Vieles spricht dafür, dass die Wege in den Profi-Radsport heute vielfältiger geworden sind. Einst galten wohl als Haupt-Kriterien aus Sicht der Profi-Teams: Ergebnisse, Ergebnisse, Ergebnisse – und ein bisschen Mentalität. Heute sind Top-Platzierungen bei Rundfahrten wie der Tour de l’Avenir oder dem „Baby Giro“, die als Tour de France und Giro d’Italia der Nachwuchsfahrer gelten, noch immer fast schon Garantien dafür, einen Vertrag bei einem World-Tour-Team zu erhalten. Doch generell wird weniger „nach Ergebnissen“ gescoutet – und mehr nach den Leistungswerten.
Potenzielle Beispiele für ein solches Vorgehen finden sich etliche. So belegte etwa der Spanier Carlos Rodríguez bei seinen vier WM-Einsätzen in der Junioren-Klasse „nur“ die Plätze 22 und 34 in den beiden Zeitfahren sowie 74 und 24 in den Straßenrennen. Und dennoch war man beim Weltklasse-Team Ineos Grenadiers so überzeugt von ihm, dass man ihm einen Vier-Jahres-Vertrag anbot. Somit wechselte auch Rodríguez als 18-Jähriger direkt von der Junioren-Klasse in die höchste Liga des Radsports.
Zwei weitere Beispiele für ein „ungewöhnliches“ Scouting heißen: Ben Zwiehoff und Anton Palzer. Beide sind keine jungen Talente mehr – mit 27 beziehungsweise 28 Jahren. Doch beide wechselten quasi ohne ein einziges echtes „Ergebnis“ in einem Straßenrennen zu einem World-Tour-Team, der deutschen Equipe Bora-Hansgrohe. Zwiehoff war zuvor ein Profi-Mountainbiker, Palzer ein Ski-Bergsteiger. Die Zahl, die wohl mitverantwortlich dafür war, dass Palzer nun ein Radprofi ist, lautete: 92,5. Sie steht für seine „VO2max“, die maximale Sauerstoffaufnahme, gemessen in Milliliter pro Minute und Kilogramm Körpergewicht. Die VO2max gilt als einer der wichtigsten Prädikatoren der Ausdauer-Leistungsfähigkeit. Die VO2max von Egan Bernal soll bei 91 liegen – jene von Remco Evenepoel zwischen 85 und 87.
Talent oder Training?
Talent oder Training – wie wird man Rad-Profi? Eine interessante Studie dazu veröffentlichten norwegische Forscher um Ida Svendsen 2018 im International Journal of Sports Physiology & Performance. Sie verfolgten dafür die Entwicklung von 80 Nachwuchs-Radsportlern zwischen 2005 und 2011. Zu Beginn dieser Phase waren die Fahrer 18 Jahre alt, am Ende 23. Die Athleten führten Trainingstagebücher, in denen sie jede Einheit genau protokollierten.
Am Ende der Studienphase hatten 21 der 80 Sportler ihre Karrieren beendet, 26 waren auf der nationalen- beziehungsweise der Vereinsebene aktiv, 24 fuhren für Kontinental-, neun für World-Tour-Teams. Die 26 Vereins-Amateur-Fahrer fungierten für die Forscher als Kontrollgruppe. Physiologische Laktatschwellen- und VO2max-Testdaten waren nur von wenigen – insgesamt 13 – Probanden verfügbar.
Maximal Aerobic Power
Die Ergebnisse: Physiologisch, von den objektiven Leistungsdaten her, wurde ein signifikanter Unterschied zwischen den fünf World-Tour- und den acht Nicht-Word-Tour-Fahrern gefunden. Die späteren Profis wiesen eine klar höhere „maximal aerobic power“ auf. Diese bezeichnet die maximale Durchschnittsleistung, die über 60 Sekunden hinweg geleistet werden kann. Die durchschnittlichen Werte der beiden Gruppen: 533 gegenüber 451 Watt – beziehungsweise 6,9 gegenüber 6,2 Watt pro Kilogramm Körpergewicht.
Beim Vergleich der Trainingsvolumen und der Intensitätsverteilung wurden keine signifikanten Unterschiede zwischen den vier Gruppen gefunden. Solche wurden dagegen beim Vergleich der Zahlen und der Dauer der Rennen festgestellt: Die World-Tour-Profis absolvierten als Nachwuchsfahrer signifikant mehr Rennen – durchschnittlich 50 pro Saison in Relation zu 40 der anderen Athleten – und deutlich mehr Wettkampfstunden: 92 in Relation zu 80 bei den Kontinental- und 63 in der Gruppe der Vereinsfahrer.
Ihre Junioren-Rennen dauerten zudem auch tendenziell länger: durchschnittlich 1,9 im Vergleich zu 1,6 Stunden. Die späteren World-Tour-Fahrer platzierten sich zudem bei den nationalen Meisterschaften deutlich besser als die Athleten der anderen Gruppen: Sie fuhren im Durchschnitt in die Top-Fünf. Die späteren Kontinental-Fahrer kamen, statistisch zusammengefasst, in die Top-20 – und die Vereins-Fahrer und „Dropouts“ unter die Top-30.
VO2max und Intervalle
Die körperlichen Voraussetzungen standen im Zentrum einer Studie von Steiner et al., die 2019 in der Zeitschrift Medicine & Science in Sports and Exercise erschien. Zwar ist die Stichprobe klein – zehn junge männliche Ausdauersportler, fünf Skilangläufer und fünf Triathleten – doch das Studiendesign ist interessant und verspricht eine hohe Aussagekraft. Jeder der Probanden gehörte zu den Top-15 der nationalen Rangliste. Sie alle wurden im Alter von 16 bis 19 Jahren in sechs-monatigen Abständen getestet, in der Regel im Mai und November, zu einem Zeitpunkt außerhalb ihrer Saison sowie zu deren Beginn. Als Kontrollgruppe dienten zwölf gleichaltrige Nicht-Sportler.
Getestet wurden die Parameter: Körper-Anthropometrie, Blutvolumen und -Hämoglobingehalt, VO2max.
Die Ergebnisse: Das Training hatte weder einen Effekt auf die Höhe noch auf die Änderungsrate des Hämoglobinwerts. Sowohl die Ausdauer- als auch die Nicht-Ausdauer-Gruppe steigerte den Hämoglobin-Wert über die drei Jahre mit gleichen Raten. Das Blut-Plasmavolumen war bei den Ausdauertrainierten höher – und änderte sich über die drei Jahre nicht. Das Blutvolumen nahm in den drei Jahren in beiden Gruppen gleichermaßen zu, wobei die Ausdauergruppe in jedem Alter einen höheren Wert aufwies. Da sich das Plasmavolumen über die drei Jahre hinweg nicht veränderte, bedeutete dies, dass die Volumenzunahme der Masse an roten Blutkörperchen für diese Veränderung verantwortlich war.
Talente im Radsport: Wunderkinder und Profis
Die VO2max-Daten zeigten höhere Werte der Athleten, jedoch nahm die maximale Sauerstoffaufnahme über die drei Jahre hinweg in beiden Gruppen, relativ, in einem vergleichbaren Maß zu. Dies lässt vermuten, dass die Steigerung nicht auf das Training zurückzuführen ist, sondern auf die natürliche körperliche Entwicklung. Und somit: auf die Gene.
Ein prägnantes Beispiel dafür, dass es für eine Profi-Karriere mehr braucht als einen hohen VO2max-Wert, ist der Fall des Oskar Svendsen. Der nicht-sport-treibende Durchschnittsmensch weist eine VO2max von rund 40 bis 45 Millilitern pro Minute und Kilogramm Körpergewicht auf. Profi-Radsportler weisen durchschnittliche VO2max-Werte zwischen 74 und 88 auf.
Lance Armstrong soll einen Wert von 85 gehabt haben – der dreimalige Tour-de-France-Sieger Greg LeMond einen von 92,5. Oskar Svendsens „Fabelwert“ lag, im Alter von 18 Jahren, noch einmal um fünf Prozent höher. Der Norweger verbrachte in seiner Kindheit viel Zeit auf Langlaufski und spielte Fußball. Erst auf dem Gymnasium fuhr er seine ersten Radrennen. Als 15-Jähriger absolvierte er an seiner Schule einen Leistungstest mit einer Spiroergometrie. Sein VO2max-Wert: 74,6. Er begann zu trainieren. Im Jahr nach dem Test trainierte er 496, in dem darauf 694 und in dem danach 759 Stunden. 2012 absolvierte er einen Leistungstest, der in die Geschichte – zumindest jene der Trainingswissenschaft – einging. Er erreichte dabei eine maximale Sauerstoffaufnahme von 96,7 Milliliter pro Kilogramm, der höchste je gemessene Wert. Drei Wochen später startete er für Norwegen bei den Junioren-Zeitfahr-Weltmeisterschaften. Und gewann. Die Zweit- und Drittplatzierten: Matej Mohorič und Maximilian Schachmann. Beide, der Slowene und der Deutsche, sind heute sehr erfolgreiche World-Tour-Profis.
Kann Svendsen VO2max-Wert stimmen?
Später kam in wissenschaftlichen Kreisen eine Debatte darüber auf, ob Svendsens Werte korrekt sein können oder ob nicht ein Messfehler vorlag. Doch die Mitarbeiter des Sport-Labors in Lillehammer prüften ihre Geräte und fanden dabei keine Abweichungen. Svendsen galt als das neueste Wunderkind des Radsports. Als Fahrer, der die großen Rennen dominieren wird. Von seinen körperlichen Voraussetzungen her war er dies vielleicht auch.
Es waren andere Faktoren, die dazu führten, dass er 2014, als 20-Jähriger, seine Karriere beendete. „Ich kam mit guten physischen Qualitäten in den Sport, aber ich kämpfte am meisten mit der Taktik und den Abläufen“, sagte er 2018 in einem Interview. „Bergabfahren war auch etwas, womit ich sehr zu kämpfen hatte und das hat mich in den Rennen viel Energie gekostet. Radsport ist ein monotoner Sport, aber dennoch so komplex und taktikgetrieben, dass man keine Rennen gewinnen kann, wenn man nicht all diese Qualitäten mitbringt. Und ich dachte nie wirklich an eine Profi-Karriere. Diesen monotonen Lebensstil eines Radprofis wollte ich nicht. Ich bin jetzt glücklicher – und bereue nichts.“
Svendsen steigerte seine VO2max innerhalb von drei Jahren um rund 30 Prozent. Diese unwahrscheinliche Verbesserungsate zeige, so konstatierten die ihn untersuchenden Sportwissenschaftler, „die Bedeutung der intrinsischen Biologie bei Trainingsanpassungen“. Ergo: die Bedeutung der Gene. Oder anders ausgedrückt: des Talents. Die genetischen Voraussetzungen bestimmen zu großen Teilen mit, wie groß der eigene „Motor“ zu Beginn des Trainingsprozesses ist – und wie sich der Organismus in dessen Verlauf an diese Reize adaptiert. Das – im Wortsinn – jüngste Beispiel des Aufstiegs sehr junger Fahrer heißt: Cian Uijtdebroeks. Er unterschrieb bereits 2020 einen Drei-Jahres-Vertrag beim deutschen World-Tour-Team Bora-Hansgrohe. Im Alter von nur 17 Jahren.
In seiner Heimat Belgien gilt er bereits als „der neue Remco Evenepoel“. Nach seiner ersten Saison als Junior war, laut Medienberichten, quasi die halbe World Tour an seiner Verpflichtung interessiert. So wohl unter anderem die Teams Deceuninck-Quick-Step, Jumbo-Visma und DSM.
Chancen und Scouting
Er gewann das dreitägige Etappenrennen Critérium Européen des Jeunes mit einem Vorsprung von 3:41 Minuten, die belgischen Meisterschaften im Straßenrennen, die Tour de l’Ain, das Chrono des Nations und die Challenge Voeckler. Das Junioren-Rennen von Kuurne-Brüssel-Kuurne gewann er 2020 als Solist – nachdem er 50 Kilometer vor dem Ziel attackiert hatte. Sein Vorsprung auf den Zweiten bei La Classique des Alpes: fünf Minuten.Uijtdebroeks wurde in dem Junioren-Team Acrog-Tormans ausgebildet. So wie auch die früheren und aktuellen Profis Jasper Philipsen, Herman Frison, Jelle Vanendert, Kevin Seeldraeyers, Wilfred Peeters, Tom Boonen und – Remco Evenepoel.
Der Leiter des Teams, Jef Roberts, sagte in einem Interview: „Wir fahren jedes Jahr in ein Trainingslager nach Spanien und veranstalten dort immer ein internes sieben Kilometer langes Bergzeitfahren. Remco Evenepoel unterbot damals als Junior den bestehenden Rekord von Jasper Philipsen um über zwei Minuten. Cian war 2019 noch einmal eine halbe Minute schneller. Sein einziges Manko ist der Sprint, aber bergauf und im Zeitfahren ist er kaum zu schlagen. Er macht Dinge, die ich noch nie gesehen habe.”
Talente sind heute „deutlich selbstbewusster“
2022, nach einem Jahr im Bora-Hansgrohe-Junioren-Team wird Cian Uijtdebroeks in die World Tour wechseln – und die komplette U23-Klasse überspringen. „Die Jugend ist heute deutlich selbstbewusster und nicht mehr so demütig”, sagte Ralph Denk, der Bora-Hansgrohe-Teamchef, in einem DPA-Interview. „Und die Mannschaften haben mittlerweile das Wissen und den Willen, mit den jungen Rennfahrern zu arbeiten. Sie machen sich Gedanken über Renneinsätze, über Training und setzen sich intensiver mit ihnen auseinander. Früher galt mal: Wir nehmen den Jungen hart ran. Wenn er dann immer noch aufsteht, dann ist er kein Schlechter.“
Einst galt im Profi-Radsport als eine der ungeschriebenen Regeln: Wer neu im Team ist, wer noch kein herausragendes Palmarès hat, der arbeitet erst einmal für andere, für die Älteren, für die Kapitäne. So war Miguel Indurain jahrelang „nur“ ein „Edelhelfer“ seines Kapitäns Pedro Delgado. Den ersten seiner fünf Tour-de-France-Siege holte er „erst“ im Alter von 27 Jahren.
Der viermalige Tour-Sieger Chris Froome gewann seine erste Grand Boucle mit 28. Heute scheinen andere Regeln zu gelten. Die Teams scouten neue Talente früher, sie verpflichten sie früher, sie geben ihnen früher die Chance, auf eigene Rechnung zu fahren. Sie suchen den „neuen Evenepoel“, den „neuen Pogačar“, den „neuen Hirschi“. So soll der 20-jährige Australier Luke Platt – ein Fahrer, der noch keinerlei höherklassige Profi-Erfahrung hat und erst zwei Radrennen in Europa gefahren ist – mehr als ein Dutzend Vertragsangebote aus der World Tour gehabt haben. Laut Medienberichten soll er zum Spitzen-Team Ineos Grenadiers wechseln. Sein Drei-Jahres-Vertrag soll ihm demnach rund 1,5 Millionen Euro einbringen.
Dort haben sich bereits Fahrer wie Tom Pidcock, 21, und Ethan Hayter, 22, zu Weltklassefahrern entwickelt. Warum ist die Leistungsfähigkeit so vieler so junger Fahrer so viel höher als früher?
Wo liegen die Gründe für die stärkeren Talente?
Viele Experten geben das professionellere und datengetriebene Training als Grund an. Das Fahren und Trainieren nach Powermeter-Werten, das genaue Einhalten der Leistungsbereiche, die gezieltere Periodisierung, die Effekte von Ansätzen wie jene des Polarized Trainings, verbesserte Ernährungsstrategien, den professionelleren Lebensstil.
Doch sind all diese Erklärungen und Argumente ausreichend, um diese enorme Entwicklung, diese Umwälzung, diese Leistungsexplosionen erklären zu können?
Dieser Artikel erschien in der RennRad 8/2021. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.
Rennen und Entwicklung
Der wichtigste Faktor für eine WorldTour-Profi-Karriere ist – laut einer Langzeit-Studie von Svendson et al. aus 2018: Die Zahl und die Länge der absolvierten Radrennen in den Nachwuchsklassen. Dieses Ergebnis unterstreicht die Wichtigkeit eines professionellen unterstützenden Teams, Vereins und Umfelds. Der Studie zufolge absolvierten die späteren Radprofis mehr und längere – und somit andere – Rennen als die Top-Nachwuchsathleten, die es nicht in die WorldTour schafften.
Das bedeutet: größere Rennen, internationale Rennen, Rennen mit stärkerer Konkurrenz, Rennen über längere Distanzen, Straßenrennen statt Kriterien. Doch die Zahl der Straßenrennen nahm hierzulande in den vergangenen zehn Jahren in den meisten Bundesländern um zwischen 40 und 50 Prozent ab. So verringerte sich ihre Zahl in Nordrhein-Westfalen von mehr als 130 in 2005 auf weniger als 70 in 2015. Der größte Mangel besteht in Deutschland an Rundfahrten und schweren Straßenrennen. Wie sollen sich angesichts dessen junge Fahrer entwickeln? Rennhärte gewinnen? Es zu den Profis schaffen? Die Zahl der Junioren-Lizenzfahrer ging zwischen 1997 und 2016 von 1423 auf 769 zurück – allerdings sind darin auch Mountainbiker und BMX-Fahrer enthalten. Für die Straße erscheint die Zahl 500 als realistisch.
Talent, Training und die VO2max
Die VO2max ist die maximale Sauerstoffmenge, die vom Körper während einer maximalen Ausbelastung aufgenommen werden kann. Die Erhebung der Sauerstoffaufnahmekapazität erfolgt mittels einer Atemgasanalyse während einer stufenweise ansteigenden Ausdauerbelastung.
Zu einem Großteil ist die VO2max genetisch bedingt. Die Trainierbarkeit liegt Studien zufolge bei rund 20 bis 50 Prozent. Durch ein Training im Bereich von 65 bis 90 Prozent der VO2max kann die maximale Sauerstoffaufnahme erhöht werden. Dafür bieten sich verschiedene intensive Intervall-Trainingsformen um die anaerobe Schwelle herum an. Oskar Svendsen konnte seine VO2max innerhalb eines Jahres um rund 14 Prozent steigern.
Das Training: Umfang und Intensität
Wie verlaufen die Änderungen der Trainingsquantität und -qualität im Laufe der Jahre – auf dem Weg in den Profi-Radsport? Diese Frage stand im Mittelpunkt einer Studie, die nur einen einzigen Probanden hatte. Im Normalfall ist die Aussagekraft einer solchen Einzelfall-Untersuchung sehr begrenzt. Doch der – nicht ausdrücklich genannte – prominente Name des in dieser Studie über sechs Jahre hinweg begleiteten Probanden lautet: Thibaut Pinot.
„A six-year monitoring case study of a top-10 cycling Grand Tour finisher“. Das ist der Name der Studie, die Pinots Trainer und Bruder Julien Pinot und sein FDJ-Team-Trainer Frederic Grappe veröffentlichten. Die Aufzeichnungen seiner Leistungsdaten und Trainingsumfänge begann 2008. Damals war Pinot 18 Jahre alt und U19-Fahrer in einem kleinen französischen Team. Die Datensammlung endete 2013. Pinot beendete in diesem Jahr die Vuelta als Siebter und gewann im Jahr zuvor eine Tour-Etappe. Die Daten zeigen, dass sich seine Trainingszeit auf dem Rad fast verdoppelt hatte – von 526 auf 943 Stunden. Zudem nahm auch die Intensität systematisch zu. Besonders auffällig ist dabei der sprunghafte Anstieg zwischen den Nachwuchsklassen und den Profi-Jahren. Insgesamt wurden 2208 Einheiten aufgezeichnet, 1727 Trainings- und 481 Renntage. Die Leistungsdaten wurden in fünf Zonen steigender Intensität aufgeteilt. Von langen, moderaten Intensitäten von zwei bis sechs Stunden Dauer bis zu sehr kurzen, sehr hohen Intensitäten zwischen einer und fünf Sekunden Dauer. Eine jeweils mittlere maximale Watt-pro-Kilogramm-Leistung wurde aus den Einheiten ermittelt. Auch hier zeigt sich ein erst recht sprunghafter, dann ein gradueller Anstieg in allen Bereichen.