Geld & Gewicht
Tour de France: Leitartikel zur Entwicklung des Profi-Radsports
in Race
Was braucht es, um die Tour de France zu gewinnen? Talent, Training, Taktik, Teamkollegen, Glück – und mehr. Der durchschnittliche Tour-Sieger der vergangenen Jahrzehnte ist 28 Jahre alt und wiegt rund 69 Kilogramm. Der durchschnittliche Tour-Teilnehmer ist 30 und 1,80 bis 1,82 Meter groß. Die teils seit 1945, teils erst ab 1990 gesammelten Daten, die der australische Sportwissenschaftler Rob Wood für seine Auswertung zusammentrug, zeigen Tendenzen: Zum Beispiel jene, dass die mittlere Körpergröße der Tour-Fahrer seit Jahren zunimmt.
Das Durchschnittsalter aller Tour-de-France-Starter 2020: 29,76 Jahre. Ihre Durchschnittsgröße: 1,80 Meter. Ihr Durchschnittsgewicht: 68,2 Kilogramm. Ihr Durchschnitts-Body-Mass-Index: 21. Fakt ist: Die Tour-Fahrer werden immer leichter. Nach den zusammengetragenen und berechneten Body-Mass-Index-Daten sind die heutigen Radprofis im Durchschnitt „schlanker“ beziehungsweise „dünner“ als alle ihre Vorgänger-Generationen: Ihr mittlerer BMI fiel von 22,1 in 1990 auf 20,9 in 2020. Das durchschnittliche Körpergewicht eines Tour-Starters ist demnach seit 1990 um rund fünf Kilogramm gesunken. Vor 21 Jahren lag es bei rund 73 Kilogramm – 2020 bei 67,8 Kilogramm. Die Fahrer werden leichter – und größer.
Durchschnittliche Profis bei der Tour de France: Leichtgewichte
1945 war der „Durchschnitts-Tour-de-France-Profi“ knapp unter 1,75 Meter groß. 2020 maß er rund 1,81 Meter. Bradley Wiggins, der Tour-Sieger 2012, wies, bei einer Größe von 1,90 Metern, einen BMI-Wert von nur 19,1 auf. Ebenso wie der Tour-Sieger von 1973, der 1,65 Meter „kleine“ Luis Ocaña.
Der „schwerste“ in der Datensammlung vorkommende Fahrer ist der Schwede Magnus Backstedt, der Paris-Roubaix-Sieger von 2004. Sein Gewicht: 95 Kilogramm. Der leichteste Fahrer: der Franzose Kenny Elissonde. Sein Gewicht: 52 Kilogramm. Firmin Lambot ist der älteste Gesamtsieger der Tour-Geschichte. Er gewann die Grand Boucle 1922, im Alter von 36 Jahren. Der jüngste Sieger, Henri Cornet, war im Jahr seines Triumphes, 1904, erst 19 Jahre alt. Der zweitjüngste Tour-Sieger gewann das Rennen 116 Jahre später: Tadej Pogačar. Der Slowene war im Vorjahr bei der Ankunft in Paris 21 Jahre alt. Er steht – wie auch etliche weitere bereits sehr jung sehr erfolgreiche Fahrer wie Remco Evenepoel, Marc Hirschi, Brandon McNulty, Ilan van Wilder, Tom Pidcock, Andrea Bagioli, Mauri Vansevenant und andere – für eine aktuelle Entwicklung: den Generationswechsel an der Leistungsspitze des Profi-Radsports und die extrem hohe Leistungsfähigkeit immer jüngerer Athleten. Das Höchstleistungsalter in ausdauerorientierten Sportarten wie dem Radsport liegt zwischen 28 und 34 Jahren. Eigentlich.
Tadej Pogačar: Mann der Rekorde
Eine Analyse zu den Hintergründen dieser Entwicklung finden Sie in einer der kommenden RennRad-Ausgaben – eine zu den aktuellen Top-Talenten des Pelotons erschien im Magazin 4/2021. Tadej Pogačar ist schon jetzt ein Mann der Rekorde: Er ist zum einen der jüngste Fahrer aller Zeiten, der die Tour de France und gleich drei Wertungstrikots der Grand Boucle gewann – das Gelbe, das Weiße, das Rot-gepunktete.
Zum anderen hält er seit dem Vorjahr die Rekord-Auffahrt-Zeiten an solch legendären Anstiegen wie jenem nach La Planche des Belles Filles und an Pässen wie dem Col de Peyresourde, dem Col de Marie-Blanque, dem Pas de Peyrol und dem Grand Colombier. Er unterbot im Vorjahr teils Rekordzeiten, die während der „dunklen Zeit des Radsports“, während des „EPO-Doping-Hochzeitalters“, entstanden teils deutlich. Manche Strukturen innerhalb des Profi-Radsports haben sich seitdem kaum verändert.
Menschen, die schon zu dieser Zeit ein Teil „des Systems“ waren, sitzen teilweise noch heute an den Schaltstellen. So leitete der heutige Leiter von Pogačars Team, UAE-Team Emirates, Mauro Gianetti, einst die Equipe Saunier-Duval. Jenes Team, dessen Fahrer Riccardo Riccò als Führender der Bergwertung der Tour 2008 des Dopings überführt wurde – und das sich nach einem zweiten Fall komplett von dieser Tour de France zurückziehen musste. Das mit insgesamt sieben Gesamtsiegen zwischen 2012 und 2019 die Tour dominierende Team Ineos Grenadiers, vormals Sky, war bereits mehrmals – etwa nach Chris Froomes überhöhtem Salbutamol-Wert während der Vuelta 2017 – Verdächtigungen ausgesetzt.
Team-Budgets
Nun, im März, wurde ein wichtiges Urteil gesprochen: Der frühere Teamarzt Richard Freeman wurde verurteilt. Der Grund: Er hatte am 16. Mai 2011 Testosteron-Gels in den damaligen Team-Sitz, das Manchester Velodrome, bestellt. Dem Schuldspruch zufolge handelte er im Glauben, dass die Gels zur Leistungssteigerung eines Fahrers bestimmt waren. In einer Stellungnahme des Teams zu dem Urteilsspruch hieß es, Freeman habe ethische Standards verletzt.
Und: Man glaube nicht, dass ein Fahrer das Testosteron verwendet habe oder verwenden wollte. Der durchschnittliche Jahres-Etat eines WorldTour-Teams liegt laut der UCI bei rund 18 Millionen Euro. Dem Team Ineos sollen mindestens 40 Millionen Euro zur Verfügung stehen.
Salary Cap bei der Tour de France?
Die Equipe tritt zur Tour dieses Jahres zwar ohne den Tour-Sieger von 2019, Egan Bernal, aber mit gleich vier Fahrern an, die in anderen Teams Kapitäne sein könnten. Drei von ihnen haben bereits eine Grand Tour gewonnen – und sie alle haben das Potenzial, in die Top-Fünf zu fahren. Mindestens. Ihre Namen: Geraint Thomas, Richie Porte, Richard Carapaz, Tao Geoghegan Hart. „Mit diesem finanziellen Hintergrund kann man die besten Fahrer kaufen. Aber die Frage ist, ob das für den Sport gut ist – und ob es den Zuschauern Spaß macht, solche Rennen anzuschauen. Es ist, wie wenn man im Schach mehr Königinnen kaufen kann. Dave Brailsford hat fünf oder sechs Schach-Damen im Team. Die meisten anderen Teams können sich nur eine leisten.“ Diese Worte stammen von Jonathan Vaughters. Der Ex-Radprofi gab einst zu, während seiner Karriere gedopt zu haben. Heute leitet er das Team EF Education-Nippo.
Er forderte bereits vor Jahren einen „Salary Cap“, wie er in US-amerikanischen Profiligen Standard ist, für den Profi-Radsport. Ergo: das Festsetzen von Gehaltsobergrenzen. Ein Vorgehen, das das „Abwerben“ von Top-Fahrern erschweren und somit die Chancengleichheit unter den Teams erhöhen soll. „Im Radsport existiert leider noch kein finanzielles Fairplay-System. Es ist somit möglich, dass Dominanz gekauft wird, statt strategisch kreativ zu sein. Ich denke, eine finanzielle Fairness-Regel wäre hilfreich.“
Kommerzialisierung
Im Zuge der Debatte um die geplante Einführung einer „Super League“ im Profi-Fußball trat Vaughters dafür ein, eine solche im Radsport zu bilden: „Die Logik hinter solchen Super Leagues ist einfach“, schrieb er auf Twitter. „Wenn ich ein Investor wäre, würde ich in keinen Sport-Bereich investieren, in dem es Abstiege und keine harten finanziellen Gleichheits-Regeln gibt. Beides treibt die Kosten in die Höhe und mindert die Wettbewerbsattraktivität.“ In einem anschließenden Interview erklärte er seine Sicht: „Der Profi-Radsport ist zersplittert. Es gibt keine verbindende Kraft (…) Der Sport wird von der ASO und in geringerem Maße von der UCI betrieben. Keine der beiden Organisationen legt großen Wert auf die finanzielle Fairness oder das Beseitigen von Auf- und Abstiegen. Rad-Teams mit geringen Budgets sind meist weniger erfolgreich als solche mit viel Geld, und ein Abstieg aus der WorldTour ist zwar unwahrscheinlich, aber möglich. Wenn die Teilnahme an der Tour de France nicht sicher ist, ist es viel schwieriger Sponsorengelder zu generieren. Wenn, wie etwa in der NFL, kein Team absteigen kann, dann führt dies zu einem höheren Investment-Wert.“
Probleme
Doch er sieht auch die potenziellen Probleme eines solchen Systems: „Natürlich hätte eine solche Super League negative Konsequenzen für alle kleineren Teams, die kein Teil dieser Liga sind, für alle potenziellen ‚Aufsteiger‘. Wenn es eine finanzielle Fairness gäbe, dann kann man argumentieren, dass das bestehende System mit Ab- und Aufsteigern fair wäre.“
Ohne diese, sei dies nicht der Fall. „Im Radsport gibt es keine Salary Caps. Wenn man Geld ausgibt, gewinnt man. Wir sehen das seit Jahren. Ineos, UAE, Jumbo-Visma – du investierst, du gewinnst. So einfach ist die Gleichung. Um das rauszufinden, muss man kein Genie sein. Es sind dieselben Teams, die immer und immer wieder gewinnen. Das mindert den Wettbewerb und die Attraktivität für das Publikum.“ Doch er sieht keine Anzeichen dafür, dass sich das System in diese Richtung verändern wird. Zumindest nicht im Männer-Peloton. „Der Frauen-Radsport ist noch anders – hier gibt es nicht so viele politisch verschanzte Interessen. ‚Das machen wir seit 100 Jahren so‘, ‚so ist es halt’, bla bla bla – diese ‚Argumente‘ gibt es im Frauen-Radsport weniger. Dort gibt es auch keine Teams, die ein jährliches 60-Millionen-Dollar-Budget haben.“
Milliarden und Systeme
Jonathan Vaughters sieht den Profi-Radsport als Teil der Entertainment-Industrie – und damit als Teil eines extrem umkämpften Systems. „Wenn wir konkurrenzfähig gegenüber den anderen Angeboten bleiben wollen, brauchen wir Investitionen. Wir brauchen Besitzer- und Investoren-Gruppen, die ihr Geld lieber in den Sport als in Google-Adsense-Werbung oder was auch immer stecken wollen. Ich betrachte unser ganzes System immer aus der einen Perspektive: Ich möchte mehr Investment-Dollars in den Radsport lenken, denn ich denke, dass es das ist, was ihn gesund hält.“
Auf der einen Seite sind einige von Vaughters Gedanken nachzuvollziehen – auf der anderen nicht. Denn auch dieses System würde gegen elementare Werte des Sports verstoßen. Mit den potenziellen systemischen Umwälzungen und den Folgen der geplanten, und nur zwei Tage nach dem Bekanntwerden wieder „beerdigten“, Fußball-Super-League wären diese Pläne jedoch kaum zu vergleichen. Diese „Liga“ wäre die Spitze der pervertierten Umkehrung der Bedeutung von „Sport“.
Sport steht für Chancengleichheit, Teamwork, Fairness, das Leistungsprinzip. Zählen vollkommen durchkommerzialisierte Sportbereiche, wie etwa der Profi-Fußball, noch zu diesem System? Wohl kaum. Schon die Zahlen sprechen dagegen. Zum Beispiel diese. Die Gesamt-Höhe der Startprämie für die zwölf Gründungsmitglieder-Clubs der geplanten Super League: 3,25 Milliarden Euro. Die Höhe der jährlichen „Antrittsprämie“ pro Club: 100 Millionen Euro. Real Madrids Schuldenstand: 901 Millionen Euro. FC Barcelonas Schuldenstand: 1,1 Milliarden Euro. Die Höhe der Investitionen des Emirs von Katar in Paris Saint Germain seit 2011: mehr als eine Milliarde Euro. Jene des Scheichs Mansour bin Zayed al-Nahyan, Abu Dhabi, in Manchester City seit 2008: rund zwei Milliarden Euro. Lionel Messis Gehalt: rund 380.000 Euro – pro Tag.
Multi-Millarden-Euro-Business
Dies ist primär kein Sport – es ist ein Multi-Milliarden-Euro-Business. Und eine Show.
Panem et circenses. Die Autoren des Fachmagazins „11 Freunde“ fassten ihr Fazit zu den Super-League-Plänen, mittels einer recht ungehemmten Wortwahl, zusammen: „Sie wäre der Tod des Fußballs, wie wir ihn kennen. Sie widerspricht dem Leistungsgedanken. Es ist der Versuch, aus einem Sport, den Millionen Menschen lieben, eine wöchentliche Zirkusshow zu machen, um auch noch den letzten beschissenen Cent in die Taschen der Superreichen zu quetschen. Der Fußball, gestohlen von einem Haufen asozialer Geschäftsmänner, deren Klubs so tief in der Kreide stehen, dass sie bereit sind, den ganzen Laden für ein paar Geldsäcke mehr einfach abzufackeln.“
*Die erstmals auf www.topendsports.com veröffentlichte Datenanalyse beruht vorrangig auf Informationen der Datenbank von procyclingstats. Die Zahlen zu den Größen und Gewichten der Fahrer umfassen den Zeitraum zwischen 1990 und 2020. / Einen weiteren großen Artikel zur Rolle der „Sport-Gene“ und des Trainings werden wir in einer der nächsten Ausgaben veröffentlichen.