King of the Lake, Reportage, Selbstversuch
King of the Lake – Zeitfahren: Leistung, Training, Erlebnis

Schmerz & Geschwindigkeit

King of the Lake – Zeitfahren: Leistung, Training, Erlebnis

Tempohärte, allein mit sich und seinem Rad, Qualen und Glückshormone: Das ist, was man bei einem Zeitfahren erlebt. Der Selbstversuch beim King of the Lake in Österreich – Leistung, Training, Erlebnis.
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Mein Atem ist unglaublich laut. Es tut mir fast in den Ohren weh, mich selbst zu hören. Das Geräusch, dieses angestrengte Ringen nach Luft, nach Sauerstoff, hallt in meinem geschlossenen Zeitfahrhelm wider. Schweißperlen tropfen von meiner Stirn und verschmieren die Gläser meiner Brille. Ich habe Schmerzen in den Oberschenkeln, den Waden, den Knien, dem Nacken. Eigentlich gibt es fast nichts in und an mir, das gerade nicht schmerzt. Ich habe es so gewollt. Ich habe dafür trainiert, um während des Ertragens dieser Schmerzen etwas schneller vorwärts zu kommen. Wie sagte bereits Greg LeMond über den Sinn des Trainings: Es tut nicht weniger weh – du wirst nur schneller. Ich saß gestern drei Stunden lang im Auto. Ich nahm ein Hotelzimmer. Ich stand morgens früh auf. Alles, um das zu erleben, das ich gerade erlebe. Um dies zu spüren: Wind, Schweiß, Schmerz, mich selbst. Ich fahre auf die Erlösung zu: den Zielstrich. Doch er ist noch fast 30 Kilometer entfernt. Dies ist das größte und wichtigste Zeitfahr-Rennen Europas, das „King of the Lake“.

Die Strecke: 47,2 Kilometer, 260 Höhenmeter – einmal rund um den Attersee in Österreich. Ich bin einer von fast 1300 Hobby-, Elite- und Jedermann-Athleten, die hier in diesem Jahr an den Start gehen. Als Einzelstarter, als Zweier- oder Viererteams.

Kampf um jede Pedalumdrehung

Ich „liege“ fast auf meinem Zeitfahrrad – und kämpfe um jede Pedalumdrehung. Vorne liegt die Kette auf dem extra montierten „großen“ Kettenblatt mit seinen 54 Zähnen. Hinten auf dem 13er-Ritzel. Der Blick auf meinen Radcomputer zeigt: Meine Geschwindigkeit liegt zwischen 45 und 50 km/h. In meinen Blutbahnen mischen sich Stress- und Glückshormone.  Das Zeitfahren war schon immer meine Leidenschaft. Auch wenn ich kein geborener „Rouleur“ bin.

Doch dieses alleine sein, alleine mit sich, dieses Ticken der Stoppuhr im Kopf, fasziniert mich. Nur man selbst gegen die Zeit und die Elemente. Ohne Pause in jeder Sekunde, auf jeden Meter konzentriert, darauf, das Optimum herauszuholen – es gibt für mich keine schönere Radsportdisziplin. Man verliert gegen sich selbst oder schafft es, seinen Schmerz und seinen eigenen Willen, den „inneren Schweinehund“, zu brechen und das Bestmögliche aus sich herauszuholen. Wenn ich weiß, wenn ich spüre, dass ich 100 Prozent aus mir herausgeholt habe, ist mir die Platzierung, die danach auf einem Ergebniszettel steht, völlig egal.

King of the Lake, Selbstversuch, Reportage

Über sieben Hügel musst du fahren: Die zweite Hälfte weist etliche kleine Hügel auf – mit insgesamt rund 200 Höhenmetern

King of the Lake: Um den See

Leider gibt es für mich, wie auch für alle anderen Hobbyathleten, nur sehr wenige Gelegenheiten, diese Leidenschaft auszuleben. Der Radrennsportkalender schrumpft von Jahr zu Jahr. Immer mehr Rennen und Zeitfahr-Events fallen dem hohen Organisationsaufwand und wachsenden behördlichen Auflagen zum Opfer. Das Zeitfahren des King of the Lake am Attersee ist eine der wenigen Ausnahmen. Die größte von allen.

Das Event wurde 2019 zum 9. Mal ausgetragen – es wächst, und wächst. Der Anfang: Ein nicht ganz ernstgemeinter „Streit“ an einem Stammtisch – und die Frage: Wer macht nicht nur große Sprüche, sondern ist wirklich schneller um den See gefahren? Dieser vereinsinterne Leistungsvergleich war der Beginn des King of the Lake. Der Anfang des heute größten Zeitfahr-Event Europas.

King of the Lake: Internationale Veranstaltung

Aus einer Vereinsmeisterschaft ist mittlerweile eine internationale Veranstaltung gewachsen. Anfangs wurde für das Zeitfahren nur eine Straßenseite gesperrt, um den Wochenendverkehr nicht zu stark einzuschränken. Mittlerweile finden die bis zu 1300 Sportler eine komplett für die Veranstaltung gesperrte Strecke vor. Neben der perfekten Organisation und der familiären Atmosphäre spricht noch mehr für das Event. Etwa: Der hohe Freizeit- und Urlaubswert der Region östlich von Salzburg. Die Berge, die Seen, die Natur. Und: die Strecke. Man umrundet auf ihr auf dem kürzesten Weg den Attersee. Wer den Blick von den drei, vier Metern Asphalt vor sich abwendet, der kann traumhafte Landschaften erblicken.

Andererseits macht es diese Streckenführung mental nicht einfacher: Aufgeben bringt nichts, da man ab der Hälfte ohnehin wieder zurück zum Ausgangspunkt muss. Die Strecke ist seit Jahren dieselbe. Somit kann man seine aktuellen mit seinen früheren Fahrzeiten vergleichen. Und – dies ist eine weitere Besonderheit des King of the Lake: Man kann sich zudem mit den Radprofis vergleichen. Denn seit einigen Jahren werden auf dieser Strecke auch Rennen, an denen Top-Amateure und Profis teilnehmen, ausgetragen.

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Die reine Leistung

Technisch ist die Strecke extrem einfach. Die Zahl der Kurven, vor denen man bremsen muss: eine. Hier zählt nur die reine Leistung. Die Kraft, die Ausdauer, die Aerodynamik, die Pacing-Fähigkeit, der Willen. Mit seiner Distanz von 47,2 Kilometern ist das King of the Lake zudem das längste „Jedermann“-Zeitfahren Europas. Während die erste Hälfte keine Schwierigkeiten bereithält, wird das Profil des zweiten Streckenteils etwas welliger – und damit anspruchsvoller. Auf sieben kleine „Anstiege“, beziehungsweise „Wellen“, verteilt sind – auf einer Distanz von 24 Kilometern – insgesamt rund 200 Höhenmeter zu absolvieren. „Bergig“ ist anders. Dennoch unterbrechen diese Wellen jedes Mal aufs Neue den eigenen Rhythmus. Dieses Profil, und vor allem die lange Distanz, des King of the Lake erfordern eine gute Renneinteilung und Taktik. Mit beidem hatte ich bei meiner ersten Teilnahme, 2016, große Probleme.

Dennoch: Damals fuhr ich noch mehr Rennen, auf hohem Niveau, und hatte deshalb ein hohes „Standgas“ aufgrund der „Wettkampfhärte“. Diese fehlt mir inzwischen. Doch ich habe den großen Vorteil, jeden Meter dieser Strecke zu kennen.

Ziel beim King of the Lake

Deshalb lautete mein Ziel vor dem Zeitfahren: Meine Zeit von 2016 unterbieten. Schneller als 1:04:02,13 Stunden sein. Nur wurde mein langfristiger Formaufbau durch einen schweren Sturz 2017 extrem zurückgeworfen: Ich brach mir einen Oberschenkelknochen. Der Weg zurück in den Sport, aufs Rad – geschweige denn aufs Zeitfahrrad – war ein langer, schwieriger und schmerzhafter. Meine über Jahre hinweg gewohnte Position auf der Zeitfahrmaschine konnte ich nicht mehr einnehmen. Dieser Hüftwinkel war unmöglich zu erreichen.

Ergo: Die Aero-Werte aus dem System Zeitfahrrad und Fahrer verschlechterte sich. Auch die Watt- beziehungsweise Leistungsdaten sind – leider – nicht mehr vergleichbar mit denen aus 2016. Dennoch: Ich habe alles versucht – und sehr viel ausprobiert. Ich änderte meine Sitzposition radikal: Die Armpads meines Zeitfahraufliegers stehen nun vier Zentimeter höher als früher. Ich mobilisierte meine mittlerweile verheilte Oberschenkelmuskulatur. Ich arbeitete und arbeitete.

King of the Lake, Selbstversuch, Reportage

 

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King of the Lake: Training und Pacing

Auch taktisch habe ich mir einen „Schlachtplan“ überlegt – zusammen mit meinem Trainer Markus Hertlein: Statt das Rennen in zwei Abschnitte aufzuteilen, unterteilte ich es in drei Teile, die je rund 20 Minuten lang sein sollten. Mein Hauptziel war es, mich in jedem dieser drei Teile steigern zu können. Also: Kein Vollgas-Start, sondern ein durchdachtes Anziehen des Tempos über die 47,2 Kilometer hinweg. Soweit die Theorie. Soweit der Plan.

Der Renntag. Aufstehen, Frühstücken – Porridge, eine Banane, Kaffee – Einschreiben, Warmfahren. Der Startbereich. Die Startrampe. Jeder Starter wird aufgerufen. Ich höre meinen Namen. In 15-Sekunden-Abständen geht es auf die Strecke. Die Sekunden werden heruntergezählt. Start. Jeder Meter ist wichtig. Ich bin vollkommen fokussiert – auf die Meter vor mir. Ich höre die vielen Zuschauer nicht mehr. Tunnelblick. Beschleunigen.

In den Sattel setzen, die Arme auf die Zeitfahr-Extensions legen, schalten, auf das Display meines Powermeters schauen, denken: „Nicht überziehen! Immer an den Plan halten!“ Meine Geschwindigkeit pendelt sich bei rund 47 km/h ein. Noch überwiegt in mir die Wirkung des Adrenalins. Ich fühle mich gut, aufgeputscht. Der neue Zeitfahranzug und der neue Helm fühlen sich gut an, ich komme mir schnell vor – und meine zu spüren, wie ich „den Wind“ schneide. Vielleicht ist es nur ein Placebo-Effekt. Doch das ist mir egal. Ich denke kaum. Wenn, dann sind es immer dieselben Gedanken, die während des gesamten Zeitfahrens alle anderen verdrängen: „Immer gleichmäßig fahren. Immer die Wattwerte halten. Immer klein und aerodynamisch auf dem Rad sitzen. Immer an den Zielstrich denken. An die Erlösung.“

Sieben Hügel

Die Strecke schlängelt sich wunderschön entlang des Ostufers des Sees. Die wenigen Kurven sind weit – ich kenne sie alle. Und bleibe deshalb immer in meiner Aero-Position. Kein Grund zu bremsen. Außen anfahren, nach innen ziehen, weiter treten, Kopf nach unten. In den Dörfern, die ich passiere, stehen Zuschauer am Straßenrand und klatschen und rufen. Ich höre sie, doch ich sehe sie nicht. Ich bin in einem mentalen und einem Blickwinkel-Tunnel. Ich trage geistige Scheuklappen – und höre mehr in mich hinein als dass ich auf die Welt um mich herum achte. Dies ist eine Ausnahmesituation. Eine Situation, wie ich sie nur einmal im Jahr erlebe.

Ich will jeden Meter, jede Sekunde, davon spüren. Meine Leistung bleibt recht lange konstant. Nach einem Drittel der Strecke speichere ich die erste Zwischenrunde ab – 315 Watt durchschnittlich. Es läuft gut. Ich bin im Flow. Alles läuft nach Plan. Den Schmerz in meinen Muskeln nehme ich kaum wahr.

Doch der schwierige Teil des Kurses steht mir noch bevor: Jener mit den sieben Rhythmusbrechern. Den sieben kleinen Wellen im Streckenprofil. Auf diesen Teil der Strecke habe ich mich besonders vorbereitet. Sobald die Straße beginnt anzusteigen, versuche ich die Watt-Zahlen noch einmal zu erhöhen – und so gut es geht Geschwindigkeit mit in die Steigung nehmen. Wenn die Straße wieder abflacht, gehe ich leicht über meine anaerobe Schwelle hinaus, um möglichst schnell wieder meine „Reisegeschwindigkeit“ zu erreichen. 24 Kilometer liegen hinter mir. Die Hälfte der Strecke.

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Der längste Anstieg des Rennens

Mir steht der längste Anstieg des Rennens bevor. Ein Hügel, den man während einer normalen Trainingsfahrt wohl kaum wahrnehmen würde. Heute fühlt er sich an wie ein Alpenpass. Die Daten: 1,4 Kilometer Länge, vier Prozent Durchschnittssteigung. Mit knapp 400 Watt gehe ich zum ersten Mal seit dem Start aus dem Sattel und beschleunige.

Der Schmerz in meinen Beinen nimmt sofort zu. Doch das Gefühl des Glücks, der Motivation, überwiegt. Ich fahre an vor mir gestarteten Fahrern vorbei. Mit jedem Menschen, den ich überhole, steigt meine Euphorie. Schnell bin ich am höchsten Punkt des Anstiegs. In der schnellen Abfahrt danach, bewege ich nur noch locker die Beine, um das eben aufgebaute Laktat wieder abzubauen. Weiter geht es an der Schwellenleistung bis zur nächsten Welle mit 500 Metern Länge und fünf Prozent Steigung. Bevor ich diese erreiche, stoppe ich meine zweite Zwischenzeit: Meine Durchschnittsleistung der letzten 20 Minuten beträgt 319 Watt. Ich bin im Plan. Mit 400 Watt geht es an die nächsten Wellen. Doch das „Erholen“ bergab fällt mir immer schwerer.

King of the Lake: Das Finale

Dem „Scharfrichter“ des King of the Lake muss man sich rund fünf Kilometer vor dem Zielstrich stellen: Dem steilsten Abschnitt des Rennens. Dem teils mehr als zehn Prozent steilen Buchberg. Ich fühle mich gut und entscheide mich dafür, auf dem großen Kettenblatt zu bleiben. Ich will die „Welle wegdrücken“. Immer wieder überhole ich Fahrer. Sie ziehen mich förmlich an, bis ich aufschließe und überhole. Meine Trittfrequenz wird immer geringer. Der Laktatschmerz in den Beinen wird stärker. Doch irgendwann – ich habe an diesem Anstieg das Gefühl für Zeit völlig verloren – bin ich oben, an einer kleinen Kapelle, und weiß: Das Ziel, die Erlösung, das normale Leben – es ist nahe.

Position finden, Nackenschmerzen ignorieren, Beschleunigen, Treten. Das Display meines Leistungsmessers ignoriere ich jetzt. Jetzt ist Finale. Alles, was geht. Im Augenwinkel sehe ich am Streckenrand das Schild, das die 2000-Meter-Marke anzeigt. Nur noch eine kleine Welle trennt mich von der Abfahrt ins Ziel nach Schörfling. Die Euphorie in mir wächst – und verdrängt die Müdigkeit. Ich gehe, zum zweiten Mal heute, aus dem Sattel und zerre am Lenker. Vor mir senkt sich die Straße wieder ab und ich sprinte dem Ziel entgegen – Hauptsache so viel Geschwindigkeit wie möglich mit in die letzte Abfahrt nehmen.

Vor mir sehe ich: Die einzige „richtige“ Kurve der gesamten Strecke. Der einzige Grund kurz die Bremsen anzutippen. Ich rase über die Agerbrücke. Noch 300 Meter. Noch ein Sprint. Noch einige Sekunden Intensität, wie man sie sonst nie erlebt – sich selbst, die Zeit, die Elemente. Nur einmal im Jahr. Immer wieder.

Dieser Artikel erschien in der RennRad 10/2021. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.


Das Zeitfahren: Der King of the Lake

Das Jubiläums-Zeitfahren: 2020 findet der King of the Lake zum zehnten Mal statt. Die Strecke: Einmal um den Attersee – 47,2 Kilometer, rund 280 Höhenmeter. Zugelassen sind Einzelstarter wie auch Teamfahrer.

Attersee, King of the Lake

Der King of the Lake ist ein Zeitfahren am Attersee

Erwin Mayer, der Organisations-Chef des King of the Lake, fasst die Entwicklung des heute größten Amateur-Zeitfahrens Europas zusammen: „Das ist schon Wahnsinn, wie sich unser Vereins-Stammtisch-Wettkampf entwickelt hat. Wir haben allen die Möglichkeit gegeben, unter „Profi-Bedingungen“ ihr Bestes zu geben. Am Anfang mit Verkehr und im Minutentakt, jetzt mit einer vollgesperrten Strecke. Das meist tolle und ruhige Herbstwetter am glasklaren Attersee tut natürlich ihr übriges. Größer werden wir wohl aber nicht mehr werden können, da wir dieses Projekt neben unserem Beruf nur als Hobby machen. Die Nachfrage der Teilnehmer würde allerdings auch für einen zweiten Wettkampftag reichen. Damit würde man sich bei den Anwohnern des Attersees aber sicher nicht beliebt machen. Es kommen immer bessere und schnellere Teilnehmer aus immer mehr Ländern. Quasi jeder, der in seinem Heimatland Spitze ist, beweist sich bei uns, um zu sehen wo er international steht. Der Titel des Kings und der Queen sind begehrt und bekannt geworden. Schön wäre es, wenn ein Sieg bei uns zum inoffiziellen WM-Titel für Zeitfahrer werden würde.“

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