Das Gefühl von Geschwindigkeit
Patrick Bitzinger: Blinder Triathlet und Rennrad-Fahrer
in Race
Als die beiden Fahrer gleichzeitig aus dem Sattel gehen und antreten, schnellt ihr Rennrad-Tandem nach vorne. Sie beschleunigen über die Kuppe eines Hügels hinweg. Die Straße ist schmal und leer. Sie führt durch ein Waldstück. Kurz darauf wird sie flacher. Die beiden Fahrer beschleunigen weiter. Vier Beine. Im Gleichtakt. 50, 52, 54, 56 km/h. Im Flachen. Sie fahren Intervalle. Nach fünf Minuten wird das Tandem langsamer. Bis zum nächsten Intervall. Bis wieder der vordere Fahrer das verbale Signal gibt: „Hopp“. Das Signal, um aus dem Sattel zu gehen. Zu beschleunigen. Der Fahrer hinter ihm lächelt. Er genießt die Anstrengung, das Tempo, die Landschaft, die vorbeizieht. Auch wenn er sie nicht sehen kann. Denn er ist blind. Patrick Bitzinger sitzt hinter seinem Guide auf einem Renn-Tandem. Die beiden sind unterwegs in den Hügeln westlich von Wien. In seinem Lieblings-Trainingsrevier – dichte Wälder, durchzogen von Serpentinen. Das Ziel vieler Rennradfahrer. Das Renn-Tandem fliegt an vielen von ihnen vorbei.
Patrick Bitzinger: Training und Experimente
Patrick Bitzinger gewann mehrmals die österreichischen Paracycling-Staatsmeisterschaften, auf der Straße und im Einzelzeitfahren. 2014 gewann er ein Europacup-Rennen, im Jahr darauf wurde er WM-Vierzehnter. Sein Ziel damals: die Paralympics in Rio de Janeiro. Heute sagt er: „Im Nachhinein betrachtet war das Ziel Rio vielleicht etwas zu hoch gegriffen.“ Er verfehlte knapp einen Quotenplatz. Dies brachte Raum für neue Gedanken, neue Ziele. Für Experimente.
In seinem Kopf tauchte etwas Neues auf: Triathlon. „Ich wollte das mal ausprobieren.“ Im Frühjahr 2016 erwähnt er diese Idee seiner Trainerin gegenüber. Sein Ziel: die Teilnahme an einem Triathlon der Olympischen Distanz im Herbst. „Sie hielt mich für verrückt. Sie sagte nur: ‚Ich habe dich noch nie im Becken gesehen.‘ Also haben wir es gleich ausprobiert. Sie ließ mich einen Kilometer durchschwimmen. Ich habe es geschafft.“
Triathlon
Einige Monate später: sein erster Triathlon, in Podersdorf am Neusiedler See. Mit den Top-Schwimmern kann er nicht ganz mithalten – doch auf dem Rad fährt er die zehntbeste Zeit aller Teilnehmer.
Beim Laufen lässt er seinen Guide nach drei Kilometern stehen. Als eine schnelle Läuferin vorbeikommt, hält er ihr seine Hand hin. Sie nimmt sie. Und läuft mit ihm bis ins Ziel. Es ist kalt, als sich Patrick Bitzinger und sein Guide zu ihrer Ausfahrt aufmachen, die Wolken hängen tief.
Im Hinterzimmer eines kleinen Fahrradladens im Westen von Wien packen sie sich in ihre Rennradklamotten ein. Sie fahren für denselben Verein. In dem Shop, der einem Freund von Patrick Bitzinger gehört, lagert auch sein Rad: Ein Tandem-Modell eines amerikanischen Herstellers, der sich auf Sonderanfertigungen spezialisiert hat. Mit seinem Carbon-Rahmen und den Laufrädern wiegt es weniger als zehn Kilogramm. Alles zusammen bleibt unter zehn Kilogramm – für zwei Fahrer. Die Gänge werden elektronisch gewechselt. „Das ist die Formel 1“, sagt er andächtig, als er sanft über den Sattel streicht.
Noch ein Prozent
Als Patrick Bitzinger auf die Welt kam, konnte er noch normal sehen. Bald aber wurde ein Wasserkopf diagnostiziert, eine Leitung musste vom Kopf in den Bauch gelegt werden, damit die Hirnflüssigkeit abfließen kann. Es kam zu Komplikationen, die Leitung drückte wiederholt auf den Sehnerv. Beim ersten Mal, mit sieben Jahren, verlor er 90 Prozent seiner Sehfähigkeit.
Nach dem zweiten Mal, mit 14, blieb ihm nur noch ein Prozent. Es reicht, um Menschen als Schatten wahrzunehmen. Erkennen kann er sie nicht. Auf dem Tandem merkt er aufgrund der Helligkeit und der Umrisse, ob er gerade durch den Wald fährt, übers freie Feld oder zwischen Häusern hindurch. „Wenn wir höher hinaufkommen, dann bemerke ich, wie weit die Aussicht wird, und das gibt mir viel. Da weiß man, warum man da rauffährt.“
Patrick Bitzinger: Schwimmen, Laufen, Radfahren, Fußball
Begonnen hat die sportliche Karriere des heute 25-Jährigen mit 15. Damals probierte er vieles aus: Schwimmen, Laufen, Radfahren, Fußball. „Aber alles mit Bällen ist nichts für mich.“
Er wuchs auf einem Bauernhof im Waldviertel, ganz im Norden Österreichs, auf. Umgeben von Natur. Mit dem systematischen Training begann er mit 17. Auf der Tribüne im Bahnrad-Oval der Olympischen Spiele von London packte ihn die Atmosphäre – und ließ ihn nicht mehr los. Eine Idee reifte, ein Ziel: Dorthin, zu Olympia, wollte er es auch schaffen. Nach seiner Rückkehr suchte er sich einen Trainer, einen Pilotfahrer – und begann zu trainieren. Er spürt die Geschwindigkeit. Das ist es, was ihn antreibt. Er spürt den Fahrtwind, die reine Kraft. Deshalb gehört seine Liebe dem Rennrad, nicht dem Mountainbike. „Das Radfahren ist meine große Leidenschaft. Da muss der Guide ein sehr guter Radfahrer sein. Denn wenn ich auf dem Rad sitze, will ich nicht, dass mich jemand überholt.“
Patrick Bitzinger trainiert diszipliniert
Auch deshalb trainiert er sehr diszipliniert. Bis zu fünf Stunden am Stück saß er während seiner Phase als Mitglied des Paracycling-Nationalteams regelmäßig zu Hause auf dem Ergometer – immer dann, wenn das Wetter schlecht war. Aber auch bei Sonnenschein, dann, wenn keiner seiner Guides Zeit hatte. Nebenher liefen Skirennen im Fernsehen. Auch jetzt noch trainiert er oft und ausgiebig im eigenen Wohnzimmer. Denn die Abstimmung mit seinen Begleitern ist nicht immer einfach.
Heute ist er mit Peter unterwegs – einem Elitefahrer, der in der österreichischen Bundesliga und bei internationalen Rennen startet. Als Guide zu fahren sei eigentlich nicht anders, als allein auf dem Rennrad zu sitzen, sagt er. Nur einen längeren Bremsweg müsse man einberechnen. Und die Fliehkräfte, die in den Kurven höher seien. „Den wohl größten Unterschied spürt man im Wiegetritt: Da merkt man das hohe Gewicht, weil das Kippen des Rades doch schwerer fällt.“
Ein Guide müsse vor allem über ein gutes Rad-Handling verfügen, sagt Patrick Bitzinger. Und sich auch in den Abfahrten viel trauen. „Man braucht schon Mut und muss angstfrei sein. Wenn ich hinten auf dem Rad sitze, kann der Lenkende vorne viel machen – ans Limit gehen, auch bergab. Ich fasse schnell Vertrauen zu meinem Vordermann, auch wenn der zu Beginn noch etwas unsicher ist.“ Vor allem bei kleineren Rennen sei ein sehr guter Guide natürlich ein Wettbewerbsvorteil. Auf internationaler Ebene seien die Standards so hoch, dass kaum mehr Unterschiede auszumachen seien. Hier sitzen oft ehemalige Radprofis auf der vorderen Tandem-Position.
Freundschaft
Während Wettkämpfen, erklärt Patrick Bitzinger, werde zwischen dem Guide und dem blinden Fahrer kaum kommuniziert. Je höher die Renn-Klasse, desto weniger. So gut sei man da aufeinander eingespielt, alles funktioniere wie selbstverständlich: „Wenn der vorne reintritt, dann wird eben attackiert.“ Die taktischen Entscheidungen trifft der vordere Fahrer, der Guide. Von schweren Stürzen blieb er bisher verschont. „Einmal haben sich in einem Rennen zwei Tandems verkeilt – bei Tempo 60. Aber meine Schürfwunden waren nach zwei Wochen schon wieder verheilt. Meinen Guide hat es schlimmer erwischt. Der war 20 Zentimeter größer als ich und hat das meiste abgefangen.“
Seine vier Guides wurden zu Freunden. Sie alle trainieren in ihrer Freizeit, aus Liebe zum Sport. Für Wettbewerbe erhalten sie kleine Entschädigungen vom Behindertensportverband. Einen Guide für eine Sportart zu finden, sei noch relativ einfach, sagt Patrick. Doch im Triathlon ist es anders. Bei kleinen lokalen Veranstaltungen dürften die Begleiter zwischen den Disziplinen wechseln – bei Lizenzrennen nicht. Dort gilt: ein Athlet, ein Guide. Jemanden zu finden, der in allen drei Disziplinen etwa auf dem gleichen Level unterwegs ist, sei extrem schwierig. „Nicht nur, weil ich so ein hohes Niveau habe. Auch weil die meisten Age Grouper eben auch ihre eigenen Rennen machen, und das verstehe ich vollkommen.“
Ziele von Patrick Bitzinger
Eines seiner aktuellen Ziele lautet: Seinen Staatsmeistertitel im Paratriathlon verteidigen. Doch: Noch ist unklar, ob dieser Wettkampf in diesem Jahr überhaupt stattfinden kann. Im Vorjahr wurde er Gesamtsieger aller Altersklassen.
Im Winter will er in den nächsten Jahren seinen Fokus auf den Skilanglauf legen. Während des Lockdowns, als er nicht mit dem Tandem auf die Straße konnte, trainierte er vermehrt seine Kraft und Kraftausdauer. Ein weiteres großes Ziel: der erste Ironman – die volle Langdistanz über 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42,2 Kilometer Laufen.
Schwimmen als größte Sorge
Die Disziplin, die ihm die größten Sorgen bereitet, ist das Schwimmen. „Auf dem Rad und beim Laufen kann ich mit meinem Guide kommunizieren. Da bekomme ich mit, wie schnell oder wie lange wir schon unterwegs sind oder wie die Umgebung ist. Beim Schwimmen bin ich eine Stunde lang isoliert im Wasser, da merke ich nicht, was um mich herum passiert.“
Beim Schwimmen erlebt er die größten Einschränkungen. Zwei bis drei Stunden pro Woche schwimmt er mit seinem Verein auf gesperrten Bahnen. Öffentliche Bäder meidet er mittlerweile. Hier sind die Becken meist voll – und für einen blinden Sportler, der nicht immer perfekt geradeaus schwimme, hätten viele Menschen kein Verständnis, sagt Patrick. „Selbst dann nicht, wenn ich die Schwimmmütze mit den drei Punkten aufsetze.“ Das tue er aber ohnehin ungern, weil er sich nicht kennzeichnen wolle. „Da bin ich müde geworden.“
Der Sport ist sein Leben. In den letzten beiden Jahren hat er eine Ausbildung zum Trainer gemacht. In den vergangenen Wintern gab er Spinning-Kurse in einem Fitnessstudio. Im Sommer organisiert er Zirkeltrainings an der Alten Donau. Zudem wollte er ein Studium an der Universität Wien beginnen.
Dankbarkeit
Er wohnt in einer Studenten-WG. Sein Ziel war: ein Bachelor-Abschluss in Trainingswissenschaften und Sportmanagement. „Mein Traum ist es, in der Trainingsplanung und -organisation zu arbeiten.“ Doch: Wegen seiner Sehbehinderung kann er etwa Bewegungsanalysen nicht durchführen.
Er schlug einen anderen Weg ein und lässt sich nun zum Masseur ausbilden. In Zukunft will er seinen Schwerpunkt auf Sportmassagen legen. Den Traum, in der Sportbranche tätig zu sein, hat er nicht aufgegeben. „Ich hadere nicht damit, blind zu sein“, sagt er. „Ich kenne viele Blinde, die sehr tief im Sumpf sitzen, nur unter sich bleiben. Das sehe ich sehr kritisch. Das Schöne am Sport ist: Man hat Kontakt mit vielen verschiedenen Leuten.“
Patrick Bitzinger will kein Vorbild sein
Ein Vorbild will er jedoch nicht sein. „Man kann sich etwas abschauen, ja, aber niemand soll etwas nachahmen. Jeder muss seinen eigenen Weg gehen.“ Wenn es darum geht, zu beschreiben, wie er selbst zu seiner Erblindung steht, sucht er nach den richtigen Worten. „Es klingt vielleicht komisch, aber eigentlich bin ich fast froh darüber.“
Sein Leben wäre ganz anders verlaufen, wenn er normal sehen könnte, sagt er. Konventioneller. „Ich wäre nie in Wien gelandet, hätte wahrscheinlich irgendeine Lehre absolviert, in einem handwerklichen Beruf gearbeitet, nie diese Erfahrungen im Leistungssport gemacht, nie die Paralympics als Ziel gehabt.“ Und nach einer langen Pause fügt er hinzu: „Nein, ich bin nicht dankbar, dass ich so schlecht sehe, aber ich bin dankbar dafür, dass ich all diese Erfahrungen machen darf.“
Patrick Bitzinger: Steckbrief
Geburtsdatum | 04.01.1995 |
Wohnort | Wien |
Größe und Gewicht | 1,70 Meter / 61 Kilogramm |
Behindertensportverein | VSC ASVÖ Wien |
Radsportverein | ARBÖ Headstart ON-Fahrrad |
Dieser Artikel erschien in der RennRad 10/2020. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.
Patrick Bitzinger: Größte Erfolge
Rennrad
- Platz Europacup Prag 2014
- Platz Oberösterreichrundfahrt 2015
- Platz Straßenweltmeisterschaft Nottwil 2015
- Mehrfacher österreichischer Staatsmeister
Triathlon
- Platz U23 Ironman 70.3 St. Pölten 2017
- Platz Österreichische Meisterschaften Paratriathlon 2017