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Nizza und Côte d’Azur: Tipps, Training und Touren in den Seealpen
in Reise
Wie eine Fischgräte, die in einem Berg steckt – dem Gipfel eines legendären Anstiegs: Dies sind die letzten Kilometer des berühmten Col de la Madone, und ich sehe die Antennenmasten hoch oben vor mir. Mein Ziel. Ich schalte in einen schwereren Gang und gehe aus dem Sattel, bei elf, 13, 15 km/h. Ich fahre bergauf, auf der schmalen Straße zwischen dem grauen felsigen Hang links und den grünen, braunen und gelben Büschen am steilen Abhang rechts von mir. Ich sehe die Sonne nicht mehr am Himmel. Er ist nicht mehr durchgängig blau, sondern hat sich hinter der Bergkette rötlich eingefärbt. Die langen Ärmel meines Trikots sind nass vom Schweiß und kühl von der Abendluft auf knapp eintausend Metern über dem Meer. Im Hafen von Nizza an der Côte d’Azur begann vor zwei Stunden meine Tour, die zunächst flach entlang der Küste durch Monaco und Menton zum Fuß des Anstieges führte. Mein Begleiter Thibault lässt sich kurz zurückfallen und fährt weit unter seinem Niveau an meinem Hinterrad.
Ich höre Verpackung knistern, dann höre ich ihn lauter atmen, weil er einen Energieriegel kaut, während seine Kette durch die hohe Trittfrequenz im Sitzen in diesem etwas flacheren Abschnitt surrt. Es ist für mich das letzte Mal in diesem Jahr, dass ich einen Pass befahre. Nur mit einer Reise war dies möglich. Denn nun, Mitte November, sind viele der hohen Pässe der Zentralalpen bereits wieder verschneit und unbefahrbar. 927 Meter über dem Meer erreiche ich den Passübergang des Madone.
Zurück in den Hafen von Nizza
Zur Abfahrt in der frühen Novemberdämmerung reicht mir eine dünne Windweste. Von hier aus geht es nur noch bergab – verschwitzt und fröstelnd, eine Strecke von 25 Kilometern, zurück in den Hafen von Nizza an der Riviera, zurück in den milden Mittelmeerherbst bei 15 Grad Celsius in der Abenddämmerung.
Ein Ziel- und Ausgangsort vieler Touren rund um Nizza: das Café du Cycliste, das auch eine Rennrad-Modeboutique ist, in der die Radhosen und -trikots der gleichnamigen Marke verkauft werden. Dort stelle ich die Sitzhöhe meines Leihrennrades des kleinen Herstellers Officine Mattio aus dem nur gut 120 Kilometer entfernten italienischen Piemont ein, während die Milchschaumdüse an der Siebträgermaschine zischt, an der mein Pre-Ride-Cappuccino zubereitet wird.
Hier ist der Arbeitsplatz meines Streckenführers Thibault. Seine Bergfahrer-Figur hat der 29-jährige Ex-Radprofi, 58 Kilogramm Körpergewicht, 175 Zentimeter Körpergröße, Trikotgröße XS, nicht verloren – ebenso wenig seine Begeisterung für den Radsport und für die „Cols“, die legendären Anstiege zwischen der Côte d’Azur und den hohen Gipfeln der französischen Seealpen. Dazu gehören etwa der Col de la Bonette, an dessen Gipfel-Rundstrecke sich mit dem Rennrad eine Höhe von 2800 Metern erreichen lässt.
Hausberg von Nizza
Der Col d’Èze ist der Hausberg von Nizza, geeignet für kurze Bergtrainings und Ausblicke. Der Col de Turini mit seinen vielen kurzen und gleichmäßigen Serpentinen ist der Lieblingsanstieg vieler Einheimischer – auch von Thibault.
Der Col de la Madone ist als Lance Armstrongs Trainingsberg berühmt geworden. Die Zeit für die Auffahrt am Col de la Madone war Armstrongs Richtwert, ob die Form für einen Triumph bei der Tour de France reichen würde. Top-Profis legen die 910 Höhenmeter auf 13 Kilometern in weniger als einer halben Stunde zurück.
Pässe: Èze, Turini, Madone
Zu den Einheimischen zählen nicht nur die Franzosen, die hier leben und auf den schmalen, kurvigen Straßen zwischen dem azurblauen Meer und den dicht bewachsenen Cols trainieren. Die Côte d’Azur ist die Wahlheimat vieler Radprofis, die hier viele Trainingspartner, gutes Wetter, schöne Strecken sowie kürzere Wege zu den Rennen im europalastigen Weltradsport haben.
Was einige der Top-Radprofis hier ebenfalls genießen: einen Wohnsitz in Monaco, dem Zwergenstaat ohne Einkommens- und Erbschaftssteuer, der mit einigen Hochhäusern extrem schön an der Küste liegt. Dass ich nach weniger als 20 Kilometern in Monaco bin, bemerke ich auch ohne Straßenschilder. Mit jedem Kilometer, den man dem Fürstentum – und dem, nach dem Vatikan, zweitkleinsten Staat der Welt – näherkommt, werden die Autos glänzender, schwerer, die Auspuff-Geräusche werden dumpfer und dröhnender.
In Monaco selbst ist der Asphalt an vielen Stellen tiefschwarz und perfekt. Das Formel-1-Rennen auf den Straßen der Stadt zählt trotz der wenigen Überholmanöver zu den beliebtesten des Motorsportkalenders. Ich fahre vorbei am 179 Meter hohen Tour Odéon mit seinen 49 Stockwerken. Hier gibt es die wohl teuerste Penthouse-Wohnung der Welt: 3300 Quadratmeter für 300 Millionen Euro.
Nizza: Austragungsort der ersten Tour-Etappe 2020
Nizza ist oft weniger eng, weniger laut, es gibt Renaults mit Dellen, es gibt Märkte mit Gemüse in allen Formen, Fischen auf Eis und Blumen in Pastellfarben, es gibt Essen auf die Hand. Ein Picknick im Schneidersitz am Strand unterhalb der Promenade des Anglais, wo sich die erste Etappe der Tour de France 2020 im Sprint entschied.
Für Rennradfahrer führt der Weg oft durch das ruhige Menton, der letzten Stadt vor der italienischen Grenze zur Region Ligurien. Hier beginnen wir den Anstieg zum Col de la Madone, und von hier aus kann man über den Ort Sospel zum Col de Turini auffahren – oder auf weniger höhenmeterreichen Touren an der ligurischen Küste in Italien, auf dem Final-Abschnitt des Rennens Mailand-Sanremo, oder sogar bis zu den etwas nördlicher gelegenen Anstiegen auf der italienischen Seite der Seealpen.
Pässe im Herbst
Der Anstieg zum Col de la Madone beginnt in Menton am Intermarché-Supermarkt zu unserer Linken. Er ist eine der bekanntesten Pausen-Stätten für Radsportler weltweit. Hier kaufen Profi- und Hobbysportler kühle Getränke, Snacks und Eis, um sich vor der Auffahrt zu stärken und abzukühlen, oder für eine Pause nach der Serpentinen-Abfahrt. Richtig ruhig wird es, als wir wenige Meter später an einer kleinen Brücke abbiegen.
Wie lange der Anstieg ist, bemerke ich in dem Moment, in dem ich auch erkenne, wie spät im Jahr es bereits ist. Noch sieben Kilometer, es ist noch nicht einmal 17 Uhr. Am Himmel über dem Berg verdrängt das Abendrot das Blau, das weit hinten, scheinbar tief unter mir liegend, am Horizont in das Blau des Mittelmeers übergeht. Es passt zum Gelb, Orange und Braun der Blätter, zum Rostrot der Felsen.
Auf der schnellen Abfahrt wird es dunkel, meine Sonnenbrille verstaue ich in den Lüftungsöffnungen meines Helmes oberhalb der Stirn. Schwarz, dunkelblau, dunkelrot, wenige helle gelblich weiße Lichter von Straßenlaternen, rote Bremslichter von Autos. Die letzte Bergfahrt der Saison, sie endet am Meer, in einer Großstadt, im Herbst, der hier nicht grau und nass und kalt ist – sondern voller Farben, wärmender Sonnenstrahlen und schneefreier Pässe.
Dieser Artikel erschien in der RennRad 11-12/2020. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.
Nizza und Seealpen
Nizza ist mit 432.000 Einwohnern die fünftgrößte Stadt Frankreichs und nach Marseille die zweitgrößte Stadt der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur. Die Entfernung zur italienischen Grenze beträgt etwa 30 Kilometer, nach Monaco sind es weniger als 20 Kilometer.
Die Ausläufer der Seealpen beginnen nahe der Stadt, die höheren Berge sind weniger als 100 Kilometer entfernt. An der Prachtstraße am Meer, der Promenade des Anglais, ereignete sich im Juli 2016 ein islamistischer Anschlag, bei dem 80 Menschen starben. Hier endete auch die erste Etappe der wegen der Corona-Pandemie verschobenen Tour de France 2020.
Sehen sollte man den Place Garibaldi, den ältesten Platz Nizzas, die hoch gelegene Burg mit ihren Gärten und der Aussicht auf die Stadt, die Berge und die Küste sowie die darunter gelegene Szene-Gegend der Rue Bonaparte. Der Cours Saleya ist eine belebte Fußgängerzone in der Altstadt mit vielen Cafés, Restaurants und Marktständen.
Zu den vielen kulinarische Spezialitäten der Region zählen: Das Pan Bagnat, ein Weißbrot-Sandwich mit Nizza-Salat-Füllung mit Sardellen, Ei, Gemüse und Oliven. Die Pissaladière, ein Zwiebelkuchen mit Sardellenpaste und Oliven. Socca: Kichererbsenfladen. Fougasse: provenzalisches Hefeteig-Brot, das mit Gemüse gefüllt wird. Probierenswert.
Café du Cycliste
Café du Cycliste ist nicht nur eine Radsport-Mode-Marke, die auf auffällige und teils von klassischen provenzalischen Mustern und Stilen inspirierte Designs setzt. Es gibt auch ein gleichnamiges Café mit Boutique und Verleih, das direkt am Hafen von Nizza liegt und das ein beliebter Treffpunkt für Touren ist, für Profis ebenso wie für Hobbysportler.
Wer nur mit Handgepäck reist, kann sich hier neben hochwertigen Rennrädern auch Helme und Radschuhe ausleihen. Auf der Website cafeducycliste.com gibt es neben dem Onlineshop auch Touren-Tipps für die Region.
Auffällig an der Marke ist die Lifestyle-Orientierung. „Dass das nicht allen gefällt, ist in Ordnung. Natürlich lehnen uns viele Rennfahrer ab“, sagt Mitgründer Rémi Clermont. „Heutzutage ist der Radsport bunt und vielfältig. Es ist Platz für alle. Und alle Facetten sind gut, solange man Rad fährt und Spaß hat.“
Trainingslager: Tipps
Nizza eignet sich besonders gut für ein kurzes Trainingslager, bei dem Bergfahrten im Fokus stehen – dann, wenn einige Grundlagenkilometer schon absolviert sind oder wenn spät in der Saison noch einmal die Bergform getestet werden soll.
Attraktiv für Radsportler, die mit Nicht-Radsportlern anreisen: Die Stadt und die Küste bieten viele Möglichkeiten für Aktivitäten.
Beispiele für Berg- Trainingseinheiten
Sweet Spot mit Beschleunigungen: längere Einheit
2 bis 3 Stunden GA1, mit zweimal 20 Minuten 88 bis 93 Prozent Intensität, alle 5 Minuten für 15 Sekunden volle Belastung fahren; Pausendauer 15 Minuten. Mit dem Trainingsfortschritt können aus zweimal 20 Minuten dann Varianten mit einmal 45 Minuten oder gar einmal 60 Minuten gemacht werden.
4 x 8 Minuten im EB-Bereich: sehr fordernd
90 bis 120 Minuten mit 4, maximal 8 Minuten leicht oberhalb der Schwellen-Intensität bei 100 bis 105 Prozent Intensität, bei circa 90 Prozent der maximalen Herzfrequenz; Pausendauer 5 Minuten. Das letzte Intervall sollte schwerfallen. Diese intensive Einheit sollte gut erholt gefahren werden.
4 x 6 Kraftausdauer K3 mit Trittfrequenz-Wechsel
Fünfmal fünf Minuten leicht unterhalb der Schwellen-Intensität bei etwa 85 Prozent der maximalen Herzfrequenz; Pausendauer 3 bis 4 Minuten. Dabei abwechselnd 60 Sekunden mit Trittfrequenz 40 bis 60 Umdrehungen, gefolgt von 30 Sekunden mit 90 bis 110 Umdrehungen. Ideal: bergauf durchführen.
30/10: Explosivität und Wettkampfvorbereitung
Zwei bis vier Sets mit sechsmal 30 Sekunden deutlich oberhalb der IANS, 110 bis 115 Prozent bis zur maximalen Herzfrequenz, abwechselnd mit 10 Sekunden lockeren Pausen. Eine geeignete Einheit, um die Explosivität in der unmittelbaren Phase vor einem Wettkampf zu schulen.