Kraftprobe
Styrkeprøven: Radmarathon von Trondheim nach Oslo
in Event
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Ich sehe, dass sie noch da sind – doch ich spüre sie nicht: meine Finger. Seit Stunden fühlten sie sich an wie Fremdkörper, wie Eisblöcke. Erst kam das Zittern, dann der Schmerz. Jetzt fühle ich nichts mehr. Es ist bald Mitternacht. Es regnet seit dem Start. Wir sind irgendwo in Norwegen und fahren mit dem Rennrad durch die nasse Kälte. Unser Ziel: Oslo. Die Distanz: 540 Kilometer. Wir haben ein Fünftel der Strecke geschafft – und noch die halbe Nacht, viel Regen und Kälte vor uns. Die Sonne geht nicht unter, es ist Mittsommer in Norwegen. An einem Tag mit klarem Himmel ist es auch nachts nicht dunkler als zu Hause in Deutschland, wenn es dämmert. Doch jetzt erscheint die Landschaft in einem dunklen Grau. Die Regenwolken lassen kaum Licht vom Himmel auf die Straßen vor uns fallen. Die Akku-Lampen schicken von unseren Lenkern Lichtkegel auf den vor uns liegenden Asphalt. Wir haben noch so viel vor uns – es kann von hier aus nur einfacher werden. Oder? Wenn nur endlich dieser Regen aufhören würde. So hatten wir uns unser Norwegen-Abenteuer bei der Styrkeprøven nicht vorgestellt.
Damals, vor einem Jahr, als wir wieder einmal an einem Wochenende stundenlang im Auto saßen, auf dem Weg zu einem Radrennen. Wir sprachen darüber, was wir erreichen, was wir erleben wollten. Wir wollten an unsere Grenzen gehen. Wie in jedem Radrennen. Doch wir wollten mehr: Wir wollten etwas Besonderes erleben. Für uns beide war klar: Wir suchten neue Herausforderungen, Abenteuer. Etwas Neues, etwas Fremdes. Ein Rennrad-Erlebnis, das wir uns bisher nicht vorstellen konnten. Wir überlegten, was das verrückteste, härteste und schönste Rennen wäre. Uns fiel sofort ein Name ein – und unser Plan stand fest.
Styrkeprøven: Pläne und Abenteuer
Styrkeprøven, „die große Kraftprobe“. Von Trondheim nach Oslo. 540 Kilometer am Stück – eine Nonstop-Distanz, die selbst als Bilanz einer ganzen Trainingswoche beeindruckend wäre. Und dazu: Norwegen zum Mittsommer, wenn die Sonne nie ganz untergeht. Wenige Tage danach meldeten wir uns an. 540 Kilometer am Stück, auf dem Rennrad – das klingt extrem. Wir wussten nicht, worauf wir uns mit der Anmeldung zum Langstreckenrennen Trondheim-Oslo eingelassen hatten. Wir wollten nur unser Bestes geben. Doch unsere Vorbereitung dafür war wohl eher gewöhnlich. Denn: Wir fahren Lizenzrennen. Diese sind meist zwischen 60 und 130 Kilometer lang, oder, in diesem Fall: kurz. Das Training dafür lässt sich mit unserem normalen Alltag, dem Studium und der Arbeit gut kombinieren.
Dieses normale Training musste reichen. An Wochentagen war es schwierig, neben dem Studium und dem Beruf lange Einheiten mit vielen Kilometern zu fahren. An den Wochenenden absolvierten wir längere Einheiten mit Distanzen von etwa 100 Kilometern. Wichtig für uns war es auch, einige ganz lange Einheiten zu fahren, um uns auf die Utra-Distanz vorzubereiten. Diese standen aber nicht zu oft auf dem Plan, um den Körper nicht zu sehr zu beanspruchen und Pausen zur Regeneration zu lassen.
Nerven bewahren
Trotzdem gab es die eine oder andere Einheit mit mehr als 300 Kilometern, um die Verdauung und auch die Sitzposition an eine solch lange Distanz zu gewöhnen. Was wir leider nicht geschafft haben, was aber wirklich wichtig gewesen wäre: eine gemeinsame lange Einheit zu fahren.
Denn um eine derart lange Distanz gemeinsam zu bestehen, sollte man auch unter psychisch kritischen Bedingungen zusammenhalten und die Nerven bewahren können. Wir wussten beide, dass wir uns gut verstehen – aber ob wir diese Situation ohne Streit meistern würden, war uns nicht klar. Der Tag der Styrkeprøven rückt näher. Wir verbringen immer mehr Zeit damit, Erfahrungsberichte zu lesen. Was erwartet uns? Gibt es noch letzte Tipps von erfahrenen Startern, von denen wir profitieren können?
Start in der Nacht
Wir lesen von Hungerästen, von Halluzinationen, von extremer Kälte, von 400 Kilometern im Regen, von Stürzen. Wir finden Geschichten, die an Horrorfilme erinnern. Wir wollten ein Abenteuer, einen unvergesslichen Tag auf dem Rennrad. In die Vorfreude mischt sich beinahe Angst. Der Respekt vor der Herausforderung wächst. Haben wir uns zu viel vorgenommen? Unsere Zuversicht sinkt eine Woche vor dem Rennen. Denn der Blick auf den Wetterbericht lässt uns das Schlimmste erwarten. Die Aussichten: Dauerregen und zehn Grad Celsius beim Start in Trondheim.
Wir waren nicht so naiv zu glauben, dass wir es komplett ohne Regen schaffen würden. Denn: Der Regen gehört zur Styrkeprøven. Kaum eine Erzählung über die 540-Kilometer-Distanz kommt ohne Regenschauer und totale Durchnässung aus. Was wir ebenso nicht unterschätzen: Die fast 4000 Höhenmeter, die auf der Distanz zu überwinden sind.
Wir beginnen also, alles an wärmender Radsportbekleidung zusammenzusuchen und zu überlegen, wie wir die Nässe und die Kälte möglichst lange vom Körper fernhalten können. Unterdessen werden während der letzten Tage vor dem Event die Wettervorhersagen immer schlechter. Als wir in Trondheim ankommen, hat sich das Wetter schließlich doch noch einmal gebessert. Zwar soll es zum Start regnen – doch auf dem Weg nach Oslo soll das Wetter immer besser werden. Für den erwarteten nassen Start werden wir noch Regenüberschuhe benötigen, dazu Ersatzbeinlinge und Regenschutz-Kappen, die wir über unsere Helme ziehen – alles, was uns trocken hält.
Vorteil Campingbus
Glücklicherweise haben wir einen Campingbus als Begleitfahrzeug dabei. Sofies Mutter fährt den Bus und begleitet uns auf der Strecke. Der Vorteil ist riesig, das wissen wir schon vorher. Wir werden jederzeit die Kleidung wechseln können. Und: Es gibt immer genügend Kuchen.
Wie verbringt man den Tag vor einem 540-Kilometer-Rennen? Wir verhalten uns wie in einem Campingurlaub – an einem Urlaubstag mit Temperaturen von zwölf oder 13 Grad Celsius, ohne viel Sonnenschein. Wir spazieren in die Innenstadt mit den kleinen Holzhäusern, manche von ihnen stehen auf Pfählen über dem Wasser des Fjords. Wir trinken Kaffee, und essen die, Zurecht, berühmten Kannelboller, Zimtschnecken.
Stunden im Regen
Was uns am meisten begeistert: ein Fahrradlift. In Trondheim ist es relativ flach – nur kleine Hügel durchziehen das Stadtgebiet. Doch ein größerer Anstieg führt vom Fjord auf einen Hügel. Wer sich die Auffahrt mit dem Fahrrad ersparen will oder es mit eigener Kraft nicht schafft, nimmt einfach den kostenlosen, 130 Meter langen Fahrradlift, genannt Sykkelheisen Trampe. Man bleibt dabei auf dem Rad sitzen und stellt den rechten Fuß auf die Metallplatte an der Gehsteigkante. Die Platte wird durch ein Zugseil in der Schiene nach oben gezogen – und mit ihr der Radfahrer. Praktisch – und vor allem sehr spaßig.
Spät am Nachmittag sind wir müde und gehen zurück zum Camper. Draußen wird es kühler, die Wolken werden mehr, drinnen ist es schön warm und gemütlich – ein perfekter Abend, um früh schlafen zu gehen.
Das längste Rennen unseres Lebens
Ein gemütlicher Abend eines Tages in einem Campingurlaub? Nicht heute. Denn um 21 Uhr bereiten wir uns nicht auf den Schlaf vor – sondern auf das bisher mit Abstand längste Rennen unseres Lebens. Schlaf wird es erst in der nächsten Nacht wieder geben. Nach einem Abenteuer, das uns bereits vor dem Start immer absurder erscheint. Die Aufregung und die Freude steigen jetzt mit jeder Minute, die bis zum Start vergeht.
Erst kurz vor dem Start legen wir alle Wechselklamotten bereit und entscheiden uns, mit welcher Bekleidung wir in die 540-Kilometer-Distanz starten. Trotzdem sind wir früh genug am Start. Und wir sind aufgeregt. Kreuz und quer fahren wir durch Trondheim, bis wir endlich herausfinden, wo wir uns an den Start stellen müssen. Sind wir hier richtig? Wir sehen ein sehr unterschiedliches, gemischtes Fahrerfeld, das in wenigen Minuten auf die Strecke eines der längsten Radmarathons der Welt geht.
Wir sehen Soldaten mit einfachen Fahrrädern, ältere Männer mit Zeitfahrhelm und aerodynamischen Zeitfahranzügen, dazwischen Frauen und Männer mit einfacher Fahrradbekleidung und normalen Rennrädern, wie sie am Start eines jeden Radmarathons zu sehen sind. Mittendrin stehen wir: Zwei junge Deutsche, die sich wie alle anderen der großen Kraftprobe stellen. Die der Wille antreibt, diese zu meistern. Aber: Ob wir hier wohl eine Gruppe finden, mit der wir große Teile der Strecke gemeinsam fahren können?
Styrkeprøven: Der Start
Wir reisten ohne Erwartungen nach Norwegen. Wir hatten keine Pläne, wie lange oder wie schnell wir unterwegs sein wollten. Doch ganz allein fahren wollen wir nicht. In einer Gruppe kann man sich Windschatten spenden – und ist viel schneller. Fast überhören wir das Startsignal. Denn die Durchsagen sind auf Norwegisch. Wir registrieren erst dann, dass es losgeht, als sich alle um uns herum in Bewegung setzen. Wir klicken in die Pedale und rollen los, genau wie rund 90 andere Starter um uns herum.
Während der ersten Meter rollen wir gemütlich durch Trondheim. Doch schon nach wenigen Minuten werden wir ungeduldig. Die von der Gruppe angeschlagene Geschwindigkeit von 26 km/h erscheint uns zu langsam für die 540 Kilometer, die wir noch vor uns haben. Unser Gedanke: Wenn wir weiterhin so langsam vorankommen, kommen wir nie an. Also überholen wir Fahrer um Fahrer, sobald wir die Stadt verlassen.
Dann schauen wir uns um – und sind allein. Da wir die erste Startgruppe bildeten, realisieren wir, dass wir an der Spitze sind. Wir führen sozusagen den Marathon an. Wir sind ganz vorne bei Trondheim-Oslo. Uns ist klar, dass das eine Momentaufnahme ist – aber wir genießen sie. Vor uns fährt mit Blaulicht das Führungsfahrzeug der Riesen-Veranstaltung. Hinter uns befindet sich ein Motorrad des Veranstalters.
Immer wieder Windschatten
So geht es erst einmal dahin, ab und zu kommen Gruppen, mit denen wir uns die Arbeit im Wind teilen können. Wir haben also immer wieder Windschatten und können etwas Kraft sparen. Doch als erste große Kraftprobe erweist sich der Regen. Denn Tropfen fallen vom Himmel, immer dickere und es werden immer mehr.
Wenigstens geht es jetzt bergauf – durch die Anstrengung frieren wir nicht sofort. Die Anstiege kommen uns angenehm vor. Meist ist die Steigung gemäßigt, wir fahren mit 16 bis 18 km/h bergauf. Doch die Nässe und die Kälte setzen sich durch. Die Finger werden immer kälter, die Zehen spüren wir nun schon lange nicht mehr. Aber die Stimmung ist weiterhin gut. Und das, obwohl der Regen immer stärker wird. Die Temperatur sinkt immer weiter. Den Weg bis zur ersten Verpflegungsstation nach 62 Kilometern bringen wir schnell hinter uns. Dort gibt es warme Rinderbrühe, die das bewirkt, was wir uns von ihr erhofft haben: Sie wärmt uns von innen. Zumindest ein wenig, zumindest für kurze Zeit. Dann geht es weiter, stetig bergauf.
Rhythmus
Damit kommen wir zurecht – wir finden und halten unseren Rhythmus. Doch ebenso zuverlässig wie die Steigung ist der Regen. Er setzt uns immer mehr zu. Unsere Kräfte schwinden. Gegen Mitternacht haben wir mehr als 100 Kilometer geschafft. Wir erreichen die nächste Verpflegungsstation – gerade rechtzeitig. Wir sind inzwischen komplett durchnässt. Am Fahrradcomputer lesen wir die Temperatur ab: ein Grad Celsius. Wir sind nahe am Gefrierpunkt und genauso fühlt es sich an. Unsere Zehen und Finger spüren wir kaum mehr. Dabei hat unsere Fahrt erst begonnen: Noch gut 440 Kilometer sind es bis ins Ziel.
Wir entscheiden uns dazu, unsere Bekleidung zu wechseln. Wir steigen in unser Begleitfahrzeug und ziehen uns um. Wir packen uns ein in warme, wasserdichte Jacken und Hosen. Dies ist eine Erfahrung, die wir bisher noch nicht machen mussten. Doch nun wissen wir, wie viel Überwindung es kostet, durchgefroren und ohne Schlaf im Morgengrauen bei Regen wieder auf sein Fahrrad zu steigen – mit der Aussicht auf einige hundert Kilometer mehr, auf eine Fahrt, die noch bis zum Abend dauern wird.
Wir motivieren uns mit Musik und unserer weiterhin guten Laune. Wir beschwören uns selbst, dass wir es schaffen werden. Dass es eigentlich noch gut vorangeht. Schwieriger als bisher können die Bedingungen kaum werden: Noch kälter und feuchter geht es wohl nicht. In dieser Situation wird uns auch klar: Wir sind nicht allein. Wir sind hier zu zweit, wir sind ein Team. Uns wird klar, wie wichtig es ist, eine Leidenschaft zu teilen. Wie wichtig Freundschaft ist.
Berge und Sonne
Nach knapp sechs Stunden Fahrzeit und 170 Kilometern sehen wir die ersten hellen Flecken auf dem Asphalt vor uns. Die Sonne stimmt uns euphorisch. Die Geschwindigkeit steigt. Wir schauen auf die Anzeige unserer Durchschnittsgeschwindigkeit und versuchen sie zu steigern. Stundenlang sind wir im Spritzwasser anderer Fahrer vor uns gefahren. Jetzt regnet es nicht mehr. Langsam beginnt die Straße zu trocknen.
Und wieder wird es Zeit, gemeinsam mit unserem Begleitfahrzeug anzuhalten. Wie viele andere Starter haben wir das große Glück, diese Art der Unterstützung zu haben. Wir halten an und tauschen unsere durchnässten Klamotten gegen frische trockene Kleidung. Nach dem Stopp geht es uns sofort besser. Alles ist jetzt besser. Es ist, als hätte der Regen uns von der Landschaft, von der Natur getrennt. Erst jetzt nehmen wir richtig wahr, was uns umgibt.
Norwegen ist unglaublich schön: die Berge, die Hügel, die Wälder, die Seen. Die Strecke zwischen Trondheim und Oslo ist nicht nur extrem lang, sondern auch abwechslungsreich und kurzweilig. Der Regen und die dichten Wolken hatten diese Schönheit lange versteckt. Jetzt scheint die Sonne auf uns herab. Als die ersten hellen, warmen Strahlen die Wolkendecke über den Bergspitzen durchbrechen, vergessen wir für einen kurzen Moment, dass wir noch lange nicht am Ziel sind.
Wir erreichen ein Hochplateau, zu dessen Füßen eine wunderschöne Landschaft liegt. Die Berggipfel in der Ferne sind schneebedeckt. Immer wieder fahren wir während dieser 540 Kilometer an Seen vorbei, deren blaues Wasser mit den grünen blühenden Bäumen ab Lillehammer in großem Kontrast zum dunklen Grau der Nacht stehen. Die Anblicke während unserer kleinen Reise sind berauschend. Vor uns liegt eine lange Abfahrt. Das bedeutet: Geschwindigkeit.
Kaffee, Brühe, Kuchen, Waffeln
Am Ende der Abfahrt folgt die nächste Verpflegungsstation. Im Zelt finden wir andere Teilnehmer, die ihre kalten Füße und Finger vor elektrische Wärmestrahler halten und warme Suppe schlürfen. Auch wir frieren. Unsere Füße und Finger fühlen sich an wie Eiszapfen. Wir verlängern die Pause und versuchen, uns aufzuwärmen. Das Wichtigste ist jedoch in dieser Situation: Nicht zu lange sitzen bleiben, um nicht zu müde zu werden – wir sind schon fast neun Stunden unterwegs und es ist 7.30 Uhr morgens.
Darum fahren wir bald weiter. Es folgen die ersten kleineren Rückschläge. Anders als erwartet bilden sich nur wenige Gruppen. Lange Zeit über finden wir keine oder nur einzelne Begleiter. So müssen wir einen Großteil der Strecke zu dritt zurücklegen. So sind wir zwar sicher unterwegs, weil wir uns vertrauen und weil wir keine plötzlichen Bremsmanöver oder Ähnliches von den Begleitern befürchten müssen. Es bedeutet aber auch: weniger Windschatten, also mehr Arbeit, mehr Energieverbrauch. Werden unsere Energiereserven ausreichen?
Wir kämpfen uns von Verpflegungsstation zu Verpflegungsstation – oft allein, manchmal in einer Gruppe. Im Abstand von etwa 50 Kilometern erreichen wir Verpflegungspunkte, an denen wir immer wieder anhalten, essen und trinken. Es gibt: Suppe und belegte Brote, Kaffee und Säfte. Aus dem Auto werden wir mit Waffeln und Kuchen versorgt. Je weiter wir Richtung Oslo fahren, desto wärmer wird es. Es kommt uns so vor, als würde die Zeit nun immer schneller vergehen. Das liegt vor allem daran, dass die Bedingungen immer besser werden. Aber auch, weil wir uns Oslo immer mehr nähern.
Und sicherlich liegt es auch daran, dass wir wegen unserer zunehmenden Müdigkeit nicht mehr alles genau wahrnehmen, was um uns herum geschieht. Es kommt uns vor, als würden wir halb schlafend auf dem Rad sitzen. Wie automatisch pedalieren unsere Beine.
Verpflegungspunkt Kvitfjelltunet
Immer öfter sehen wir an den Verpflegungspunkten Fahrer, die auf den Feldbetten liegen und schlafen. Nach 307 Kilometern, am Verpflegungspunkt Kvitfjelltunet, legen wir eine längere Pause ein. Die Temperatur ist deutlich gestiegen – auf 15 Grad Celsius. Es kommt uns sogar warm vor. Wir fahren in kurzen Hosen und in Trikots mit kurzen Ärmeln.
Wir beschließen aber, wach zu bleiben beziehungsweise: uns wach zu halten, indem wir essen. Wie seit vielen Stunden gibt es Waffeln und Kuchen, dazu warmen Tee. Für uns ist klar: Sobald wir nur ein Auge zumachen, werden wir keine Motivation mehr finden, wieder auf das Rad zu steigen und weiterzufahren.
Für einige Minuten ist es, als wären wir wieder Kinder: Wir sitzen uns gegenüber und klatschen uns ab. So halten wir uns warm und müssen uns konzentrieren. Und: Wir vergessen, wie müde wir inzwischen sind. Auf dem weiteren Weg bemerken wir aber, wie unsere Konzentration immer weiter nachlässt. Wir fahren jetzt vorsichtiger, halten etwas mehr Abstand. Und vor allem strengen wir uns an, nicht auf den Rädern einzuschlafen. Dann, irgendwann, ist es, als würde die Müdigkeit langsam von allein verschwinden. Nach 380 Kilometern haben wir das Gefühl, die Müdigkeit überstanden zu haben.
Wieder bemerken wir, wie wichtig unsere Freundschaft, unsere Vertrautheit ist. Witze, Anekdoten, Diskussionen – unsere Gesprächsthemen reichen für hunderte von Kilometern. Wir sind uns sicher, diese Kraftprobe mental zu überstehen. Die Gewissheit, es zu schaffen, beginnt zu überwiegen. Auch wenn noch lange nicht klar ist, ob wir noch genügend Energie für die letzten 160 Kilometer haben. Immer wieder kommen wir an Häusern vorbei, deren Vorgärten bunt von den vielen blühenden Blumen sind.
Neue Energie
Ungefähr 150 Kilometer vor dem Ziel werden wir von einer Gruppe deutschsprachiger Fahrer eingeholt. Wir unterhalten uns und beschließen, den letzten Teil der Strecke gemeinsam zu bestreiten. Beim letzten Stopp stärken wir uns mit frischem Rhabarbersaft. Es ist, als hätte dieser bei allen neue Energie freigesetzt. Das Tempo steigt nun immer weiter an, wir kommen dem Ziel näher. Und vor allem wollen wir endlich ankommen.
Doch die Strecke mit vielen kleinen Hügeln ist nochmals anspruchsvoll. Das Tempo der Gruppe bleibt mit durchschnittlich 34 km/h hoch. Wir fahren schneller, als wir es ohne die Gruppe tun würden. Viel schneller. Wir spüren Laktatschmerzen in den Beinen – nicht gerade eine typische Situation für ein 540-Kilometer-Ausdauer-Rennen. Der Schmerz und die Erschöpfung sind in dieser konzentrierten Mischung eine extreme Herausforderung, wie wir sie uns am Abend zuvor nicht vorstellen konnten.
Der letzte Abschnitt der Styrkeprøven
Doch die Motivation, den letzten Abschnitt schnell zu schaffen, ist hoch. Es ist hart. Aber wir können die Gruppe halten, um am letzten flachen Streckenabschnitt vom Windschatten zu profitieren. Die letzten 30 Kilometer verlaufen auf der Autobahn. Ein Streifen ist abgesperrt und für die Radfahrer der Styrkeprøven reserviert. Was für ein Erlebnis – eine Autobahn, nur für uns abgesperrt. Damit wir hier mit dem Rennrad fahren können. Dies wäre in Deutschland wohl völlig undenkbar.
Hier in Norwegen ist dieses Event, dieser lange, sehr lange, immer helle, immer harte Tag auf dem Rad ein Heiligtum. Am Ende versuchen wir, das Tempo nochmals anzuziehen. In der Gruppe schaffen wir es, die letzten Kräfte zu mobilisieren. Nach 18 Stunden und 25 Minuten erreichen wir mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 29,4 km/h das Ziel. Überglücklich kommen wir in Oslo an.
Wir sind hungrig, aber wir wünschen uns nach all dem Kuchen, den Brötchen und den Riegeln etwas anderes, Salzigeres, Gesünderes, etwas Frisches, mit Gemüse und Obst, am besten einen Salat. Doch im Ziel gibt es nur Pizza und Bier – und das schmeckt dann doch. Wir fahren zum nächsten Campingplatz und duschen. Dann gibt es endlich einen großen Salat mit Nüssen. Wir sind erschöpft und überglücklich. Endlich im Sitzen und in Ruhe essen. Ohne zu pedalieren, ohne Hand am Lenker.
Schmerz und Müdigkeit
Mit Messer und Gabel. Auch nach einer Nacht erscheint es uns noch surreal, dass es jetzt vorbei sein soll. War es das jetzt wirklich? Ist es tatsächlich schon vorbei? Der Schlafentzug, die Nässe, die Kälte und die langen Anstrengungen hatten die Distanz irgendwann beliebig gemacht. Hätten wir weitere 100 Kilometer geschafft? Gar 200? Haben wir unsere Grenzen erreicht, sind wir über sie hinausgewachsen? Vielleicht ginge ja noch mehr.
Die Rückfahrt nach Deutschland ist lang. Es ist wie eine lange Autofahrt nach einem Radrennen, an einem der vielen Wochenenden im Jahr. Wie immer überlegen wir, was wir erleben und schaffen wollen. Abenteuer, Herausforderungen. Wir holen unsere Handys raus. Wir sind wieder auf der Suche – auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Nach der nächsten Kraftprobe. Was ist noch möglich?
Dieser Artikel erschien in der RennRad 7/2020. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.
Styrkeprøven: Trondheim – Oslo
Der Name „Styrkeprøven“ bedeutet „Kraftprobe“. Die Veranstaltung in Norwegen zählt zu den größten und ältesten Radmarathons der Welt – und zu den härtesten. Seit der ersten Austragung im Jahr 1966 fand die Styrkeprøven bisher in jedem Jahr statt. 2019 war somit die 53. Austragung. 2020 musste das Event erstmals abgesagt werden. Im Jahr 2021 soll das Event vom 18. bis zum 20. Juni stattfinden. Gestartet wird, je nach der erwarteten Zielzeit, zwischen Freitagabend und Samstagmorgen.
Die Styrkeprøven wird traditionell zur Mittsommersonnenwende veranstaltet. In Norwegen sinkt die Sonne zu dieser Zeit nicht unter den Horizont – es wird also nie vollständig dunkel. Es werden sechs verschiedene Distanzen angeboten. Die seit 2016 angebotene Styrkeprøven Women Vélo ist ausschließlich für Frauen.
Die kürzeste Distanz startet in Eidsvoll und führt über 62 Kilometer, die längste Strecke verläuft über 540 Kilometer und 3627 Höhenmeter von Trondheim im Norden nach Oslo im Süden. Alle Strecken enden in Oslo.
Fahrerinnen und Team
Betti Eder, 28 Jahre, Studentin, wohnt in Waging am See in Bayern. Früher war Radfahren für sie nur ein Mittel – zum Ausdauertraining als Mitglied der Ski-Nationalmannschaft. Nach dem Ende der Wintersport-Karriere wurden bei den Maloja Pushbikers FEM die Leidenschaft und die Ambitionen größer.
Sofie Mangertseder, 23, Studentin: Vor zehn Jahren, mit 13, begann ihre Radsportkarriere, mit Straßen- und Bahnrennen in Deutschland und auch international. Nach der Schule stand schnell fest: Radsport in der Frauenklasse und ein 40-Stunden-Job sind schwer zu kombinieren. Dann kam die Erkenntnis: Radfahren kann man auch einfach zum Spaß – ohne strikten Trainingsplan und lange Fahrten zu Radrennen.
Die Maloja Pushbikers FEM führten vor wenigen Jahren fünf Frauen zusammen, die neben dem Beruf oder dem Studium ehrgeizig Rennen fahren wollten. Leistungssport ohne Leistungsdruck, aber mit umso mehr Spaß – das ist das Ziel und das Motto der Gruppe. www.pushbikers.com