WorldTour, Wechsel, Machtwechsel
WorldTour-Saison 2021: Transfers, Teams, Taktik, Prognose

Machtwechsel

WorldTour-Saison 2021: Transfers, Teams, Taktik, Prognose

Budgets, Transfers & Taktiken: Wer sind die Aufsteiger der WorldTour-Saison? Wer wechselt wohin? Wie verändern sich die Teams – und die Kräfteverhältnisse? Eine Analyse.
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„Geld schießt Tore“ – lautet ein Sprichwort aus dem Fußball. Gilt dieses Prinzip auch für den Radsport? Für die WorldTour? Kann Geld, in Form eines hohen Budgets, den schnellen sportlichen Erfolg kaufen? Siege bei den großen Rennen? Beziehungsweise bei dem größten Rennen überhaupt – der Tour de France?

Der Mann, der ein solches Experiment aktuell leitet, heißt: Sylvan Adams. Er ist, neben Ron Baron, der Investor hinter dem 2020 in die WorldTour aufgestiegenen Team Israel Start-Up Nation. Adams, 62, ist ein kanadischstämmiger Israeli. Er lebt erst seit 2015 in Israel, in einem Penthouse am Strand von Tel Aviv, spricht noch wenig Hebräisch – und nennt sich dennoch bereits den „selbsternannten Botschafter meines Landes“. Er trug viel dazu bei, den Start des Giro d‘Italia nach Israel zu holen. 2018 wurden die ersten drei Etappen der Italien-Rundfahrt in dem kleinen Land ausgetragen.

Seit 2015 investiert Adams in das israelische Profi-Radteam. Sein Ziel damals: „Wir wollen den ersten Israeli zur Tour de France bringen.“ Dieses Ziel hat er 2020 bereits erreicht: Guy Niv beendete als erster Fahrer aus Israel die Tour als Gesamt-139. 2021 lautet das Ziel bei der Grande Boucle nicht mehr „dabei sein“, sondern: gewinnen.

Chris Froome: Der spektakulärste Transfer der Wechselperiode

Bereits im Juli vermeldete das Team Israel Start-Up Nation den spektakulärsten Transfer der ganzen Wechselperiode. Den des Chris Froome. Der Brite war in den vergangenen sieben Jahren der Kapitän und die Symbolfigur des Teams Sky – und der Fahrer, den es bei den Grand Tours zu schlagen galt.

Froome ist einer von nur sieben Fahrern der Radsport-Geschichte, die alle drei großen Landesrundfahrten gewannen: 2018 siegte er beim Giro, 2011 und 2017 bei der Vuelta, 2013, 2015, 2016 und 2017 bei der Tour. 2021 will er dort seinen fünften Sieg. Ob dieses Ziel realistisch ist, ist schwierig abzusehen. Am 20. Mai wird Froome 36 Jahre alt. In den vergangenen 20 Jahren gewann nur ein Fahrer über 33 Jahre die Tour de France: Cadel Evans im Jahr 2011. Im Juni 2019 stürzte Froome extrem schwer – und brach sich dabei den Oberschenkel, das Brustbein, den Ellenbogen und mehrere Rippen. Seitdem hat er kein einziges Top-Ten-Resultat vorzuweisen. Seine beste Platzierung in der Saison 2020: ein 30. Etappenrang während der Tour de l‘Ain. Für die Tour wurde er nicht nominiert. Die Vuelta fuhr er als Helfer. Man sollte ihn nicht abschreiben – doch die Chancen auf einen fünften Tour-Sieg scheinen eher gering zu sein. Trotz der massiven „Aufrüstung“ seines neuen Teams.

Chris Froome, WorldTour, Team Sky

Chris Froome hat mit dem Team Sky, heute Ineos, jahrelang die WorldTour dominiert

Potenzielle Siegfahrer

Neben Froome wurden noch weitere erfahrene potenzielle Siegfahrer verpflichtet. Etwa: Der Belgier Sep Vanmarcke, 32, für die Klassiker und Flachetappen – und der Kanadier Michael Woods, 34. Beide kamen von dem US-Team EF Pro Cycling. Woods könnte – auf dem Papier – neben dem 34-jährigen Iren Daniel Martin, der 2020 bei der Vuelta auf Gesamtrang vier fuhr, der wichtigste „Berg-Helfer“ für den designierten Team-Kapitän Froome sein. Woods gewann 2020 sowohl bei Tirreno-Adriatico als auch bei der Vuelta schwere Etappen. Beim Flèche Wallonne wurde er Dritter, bei Lüttich-Bastogne-Lüttich Siebter.

Doch die Frage ist: Reicht das? Ist dieses Team – ist dieser Kapitän – konkurrenzfähig? Fähig dazu, Grand Tours zu gewinnen? Auf dem Papier ist die Antwort klar: nein.

Die dominierenden Grand-Tour-Teams, Ineos und Jumbo-Visma, sind zu stark aufgestellt.

Doch: Eine Lehre aus der Saison 2020 lautet, dass es auch „ohne“ Team geht. Drei Wochen lang dominierten die Fahrer in den schwarz-gelben Trikots des Teams Jumbo-Visma die Grande Boucle – doch dann nahm ihnen ein einzelner Fahrer, der während den Bergetappen stets früh isoliert war, den Sieg noch weg: Tadej Pogačar. Zum Zeitpunkt seines sensationellen Sieges war der Slowene 21 Jahre alt. Die Renn-Saison 2020 war eine der jungen Fahrer – eine des Generationswechsels.

Hirschi wechselt ins Pogačar-Team

Pogačars Team, UAE Emirates, verpflichtete einen der Protagonisten dieser neuen Generation: Der Schweizer Marc Hirschi, 22, gewann 2020 den Flèche Wallonne und eine Tour-Etappe. Er verlässt das deutsche Team Sunweb, jetzt Team DSM.

Weitere, erfahrene Zugänge des Emirates-Teams: Rafal Majka und Matteo Trentin – sowie ein junges Top-Talent, der 18-jährige Spanier Juan Ayuso. Dass ein Fahrer direkt aus der Junioren-Klasse in die WorldTour wechselt, ist immer noch sehr selten, aber dennoch immer häufiger zu beobachten.

Auch bei dem bei der Tour und der Vuelta 2020 so dominant fahrenden Team Jumbo-Visma setzt man verstärkt auf junge Fahrer: Die „ältesten“ beiden der sechs Zugänge sind je 25 Jahre alt – Sam Oomen, der einst als Bergfahrer-Supertalent galt, aber zuletzt stagnierte und Nathan van Hooydonck. Zudem gibt man drei Neo-Profis die Chance – alle drei sind Niederländer und herausragende Talente: David Dekker, 22, im Klassiker-Bereich, Olav Kooij, 19, für die Sprints und Gijs Leemreize, 21, als Allrounder.

Duell zwischen Jumbo-Visma und Ineos?

Viele Experten erwarten auch bei den Grand Tours 2021 wieder das große Team- und Taktik-Duell zwischen Jumbo-Visma und Ineos. Die Briten, die in den vergangengen neun Jahren sieben Mal den Tour-Sieger stellten, haben groß investiert. Man holte gleich drei Berg- und Klassementfahrer, die in ihren Teams zuvor in den Kapitänsrollen waren. Allen voran: Richie Porte. Der 36-jährige Australier fuhr bereits von 2012 bis 2015 als „Edelhelfer“ für die britische Equipe. Nach seinem dritten Gesamtrang bei der Tour de France 2020 geht er bei Ineos, auf dem Papier, wieder einen „Schritt zurück.“

Mit Adam Yates wechselt ein weiterer Top-Star zu Ineos. Der 28-jährige Brite gewann 2020 unter anderem die UAE-Tour und wurde Neunter der Tour. Sein Zwillingsbruder Simon, der Vuelta-Sieger 2018, bleibt dagegen als alleiniger Rundfahrten-Kapitän beim australischen Team BikeExchange, vormals Mitchelton-Scott.

Der dritte extrem starke Neuzugang: Daniel Martínez. Der Kolumbianer, 24, etablierte sich 2020 in der Weltspitze. Er gewann die Dauphine-Rundfahrt und eine Tour-Etappe. Auch die anderen beiden „Neuen“ im Team haben extrem viel Potenzial: Der Belgier Laurens de Plus, 25. Und der junge Brite Tom Pidcock, 21. Die Zahl seiner Weltmeistertitel: fünf – auf dem Rennrad, dem Zeitfahrrad, dem Cyclocrosser und dem Mountainbike. Pidcock ist eines der größten Talente des Radsports.

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Neuprofis und Bergfahrer auf der WorldTour

Ein weiteres Top-Talent zählt zu den Zugängen des deutschen Teams DSM: Marco Brenner. Auch der 18-jährige Augsburger „überspringt“ die komplette U23-Klasse und wechselt direkt von den Junioren zu den Profis. Ein Interview mit ihm finden Sie in der RennRad-Ausgabe 10/2020. Der spektakulärste Neuzugang des deutschen Teams kommt aus Frankreich – jahrelang galt, und gilt, er als die französische Tour-de-France-Hoffnung: Romain Bardet. Im Vorjahr hatte der Tour-Dritte von 2017 und -Zweite von 2016 eine schlechte Saison. Die Tour musste er vorzeitig beenden. Bardet, 30, verließ nach neun Jahren seinen alten Rennstall AG2R.

Generell setzt man auch im Team DSM stark auf junge Fahrer. Vier der sechs Zugänge sind 21 oder jünger. Darunter eins der größten Talente seiner Generation – der überragende Fahrer der vergangenen U23-Saison: der Norweger Andreas Leknessund. Und: Der Deutsche Niklas Märkl, 21, der aus dem eigenen Development-Team in die WorldTour wechselt.

Zwei etablierte Leistungsträger verließen dagegen das Team: Der Giro-Dritte Wilco Kelderman, der zu dem anderen deutschen Team, Bora-Hansgrohe, ging und der australische Sprint- und Klassikerspezialist Michael Matthews, der in seine Heimat zum Team BikeExchange wechselte. Der schmerzhafteste Verlust für das Team ist aber wohl der überraschende Abgang des Schweizers Marc Hirschi, der erst im Januar bekannt wurde.

DSM, Romain Bardet, WorldTour

Romain Bardet ist der spektakulärste Neuzugang des deutschen Teams DSM

Umbruch beim WorldTour-Team Bora-Hansgrohe

Bei Bora-Hansgrohe hat man sich von sechs Fahrern getrennt. Darunter: Rafal Majka, Jempy Drucker, Jay McCarthy. Der Abgang des Österreichers Gregor Mühlberger zu Movistar stellt einen klaren Verlust dar. Der 26-Jährige hat eine enorme Entwicklung hinter sich und reifte zum Top-Helfer und potenziellen Siegfahrer. Ihn soll wohl vor allem der erfahrene Niederländer Wilco Kelderman ersetzen.

Der wichtigste Zugang des Teams stärkt dagegen nicht primär das Grand-Tour-Aufgebot um den alten wie neuen Kapitän Emanuel Buchmann, sondern die Klassiker-Abteilung: Nils Politt wechselte vom Team Israel Start-Up Nation in seine deutsche Heimat. Die Saison 2020 war eine schlechte für Politt. Er hat nur drei Top-Ten-Ergebnisse vorzuweisen. Doch das Potenzial des 26-Jährigen ist enorm. Dies hat er 2019 gezeigt, als er etwa bei Paris-Roubaix der stärkste Fahrer war – und nur von dem erfahrenen Top-Star Philippe Gilbert geschlagen wurde.

Nils Politt, WorldTour, Bora-Hansgrohe

Nils Politt wechselt in seine Heimat zum Team Bora-Hansgrohe

Gilbert ist eine Ausnahmeerscheinung – von seinen Ergebnissen her. Und innerhalb seines Teams. Er ist mit 38 Jahren der mit Abstand älteste Fahrer seines Teams. Einer Equipe, die zur Saison 2021 extrem „verjüngt“ wurde. Nur sechs der 28 Fahrer im Kader von Lotto-Soudal sind älter als 30 Jahre. 16 von ihnen sind 24 oder jünger. Gleich zehn Profis verließen das Team. Beziehungsweise: Sie mussten es verlassen. Allein aus dem eigenen Development-Team wurden fünf neue Fahrer mit einem Profi-Vertrag ausgestattet.

Astana Premier Tech

Das kasachische Team Astana Premier Tech verlor einen seiner Kapitäne: den Kolumbianer Miguel Ángel López. Der 27-jährige Sieger der Katalonien-Rundfahrt von 2019 wechselte zum Team Movistar. Unter den acht Neuverpflichtungen ist keiner der bekannteren Namen. Auch bei Astana setzt man vorrangig auf junge Fahrer als Zugänge – so etwa auf den U23-Weltmeister von 2019, Samuele Battistella, 22.

Der Kapitän wird jedoch 2021 voraussichtlich derselbe sein wie im Vorjahr: der Däne Jakob Fuglsang, 35, der Sieger der Lombardeirundfahrt 2020. Und – als eine der Entdeckungen der vergangenen Saison: der Russe Alexandr Vlasov. Der 24-Jährige lieferte 2020 in seiner ersten WorldTour-Saison konstant Top-Ergebnisse: Zweiter der Tour de la Provence, Sieger der Ventoux Challenge und des Giro dell‘ Emilia, Dritter der Lombardei-Rundfahrt, Fünfter bei Tirreno-Adriatico, Elfter der Vuelta.

Chancen und Risiken

Das französische Team AG2R hat 2021 einen völlig anderen Charakter als im Vorjahr: elf Neuverpflichtungen stehen zehn Abgängen gegenüber, darunter Romain Bardet. Unter den Zugängen sticht ein Name hervor: der des Greg van Avermaet. Der Olympiasieger von 2016 soll Klassiker-Ergebnisse einfahren. Auch wenn er 2020 nicht um die Siege konkurrieren konnte.

Eine schlechte letzte Saison hat auch der zweite sehr prominente Zugang hinter sich: der Luxemburger Bob Jungels. 2020 gelangen ihm nur wenige Top-Ergebnisse. Ein anderes französisches Team in der WorldTour, Cofidis, hat sich die Dienste des Deutschen Simon Geschke gesichert. Dieser soll den Team-Kapitän Guillaume Martin bei seinem Plan, das Tour-Podium anzugreifen, unterstützen.

Bob Jungels altes Team – das mit 39 Saisonsiegen 2020 wieder einmal erfolgreichste Team der Welt – geht nur wenig verändert in die ersten Rennen. In Zahlen: mit einem Abgang und zwei Zugängen. Diese heißen: Josef Cerny – der Tscheche, der im Vorjahr eine Giro-Etappe gewann, wechselte vom aufgelösten Team CCC zu den Belgiern. Und: Mark Cavendish. Der 35-jährige Brite war viele Jahre lang der schnellste und erfolgreichste Sprinter der Welt. Doch sein letzter Sieg datiert vom 8. Februar 2018.

Mark Cavendish, Wechsel, WorldTour

Mark Cavendish wechselt zur WorldTour-Saison 2021 das Team

Machtverhältnisse auf der WorldTour verschieben sich

Wie bei Cavendish war auch bei einem ganzen Team, NTT Pro Cycling, lange unklar, ob es in der WorldTour bleiben kann. Ob es weiterbesteht. Doch der Teamchef Douglas Ryder fand eine Lösung – und präsentierte neue Sponsoren. Vorrangig den Schweizer Radbekleidungshersteller Assos. Der neue Teamname lautet somit: Qhubeka-Assos. Die Zahl der Abgänge: 19. Die der Zugänge: 17. Darunter der neue Kapitän: Fabio Aru. Der 30-jährige Italiener gewann 2015 die Vuelta und war 2017 Fünfter der Tour. Doch in den vergangenen drei Jahren lieferte er kaum nennenswerte Ergebnisse. Dieser Wechsel könnt seine letzte große Chance sein.

Seine Entwicklung ist nur eine der vielen offenen Fragen der neuen Saison. Die Machtverhältnisse verschieben sich – junge Fahrer verdrängen die erfahrenen. Teams, Transfers und Taktiken – Fakt ist: Die neue Saison wird eine extrem spannende.

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