Bewegungslos
Bewegung in der Gesellschaft: Sport, Leistung, Gesundheit
in Sport & Gesellschaft
80 Prozent. 80. Vier von fünf Kindern und Jugendlichen bewegen sich weniger als eine Stunde pro Tag. Es ist eine Zahl, die entsetzt. Die entsetzen sollte – auch Menschen, die selbst keinen Sport treiben, aber denken und rechnen können. Denn Bewegungslosigkeit ist nicht nur ein physisch-psychisches beziehungsweise gesundheitliches Problem – wenig Bewegung ist auch ein gesellschaftliches und wirtschaftliches Problem.
60 Minuten moderate bis intensive körperliche Tätigkeit pro Tag – so lautet die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Selbst diese Minimal-Anforderung erfüllt hierzulande nur jeder fünfte Heranwachsende. Zu diesem Ergebnis kamen die Autoren des vierten Deutschen Kinder- und Jugendsportberichts, der im Oktober vorgestellt wurde.
Die wichtigsten Ergebnisse – die die Entwicklungen des Alltags von Kindern und Jugendlichen betreffen – lauten komprimiert: weniger Bewegung, weniger Leistungsbereitschaft. „Die längeren und früheren Betreuungszeiten haben in Verbindung mit der Ausweitung der Mediennutzung zu einem ‚Kampf der Nachmittagsangebote‘ um die knapper werdende freie Zeit geführt. Dies wirkt sich negativ auf die motorische Leistungsfähigkeit und die koordinativen Fähigkeiten aus“, sagt Professor Werner Schmidt, Sportpädagoge und Mitherausgeber des Berichts.
Sitz-Gesellschaft
Der durchschnittliche Tag eines Kindes besteht, nach Daten der LOGIK-Studie, inzwischen aus: neun Stunden Liegen, neun Stunden Sitzen, fünf Stunden Stehen, einer Stunde Bewegung – davon zwischen 15 und 20 Minuten intensiv. Die Zeit des unbeaufsichtigten Spielens, des Bewegens, ging innerhalb weniger als einer Generation um weit mehr als 50 Prozent zurück. Nur jedes dritte Kind spielt noch täglich im Freien, 25 Prozent nur einmal pro Woche oder gar nicht. Pro Tag verbringen Zehn- bis 17-Jährige hierzulande drei Stunden und 13 Minuten mit sozialen Medien – und weitere zwei Stunden und 16 Minuten mit Onlinespielen. Dies zeigte eine aktuelle großangelegte Studie der DAK und des Zentrums für Suchtfragen.
Wir werden zu einer bewegungslosen, körper-marginalisierenden Sitz-Gesellschaft. Das Sitzverhalten während des Medienkonsums ist „alarmierend“, so wird es in dem Kinder- und Jugendsport-Bericht konstatiert.
Eine Folge dessen: Übergewicht. Weitere Folgen: Gesundheitsprobleme und eine potenziell niedrigere Lebenserwartung. Bereits heute sind 15 Prozent der Kinder übergewichtig, mehr als sechs Prozent sind fettleibig. Bei den Erwachsenen sind die Quoten noch gravierender: Rund zwei Drittel der Männer und 53 Prozent der Frauen gelten als übergewichtig. „Wer sich im Kindesalter schon nicht bewegt, weist eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür auf, sich im Jugend- und Erwachsenenalter auch nicht zu bewegen. Die Prognose liegt bei rund 80 Prozent“, sagt Werner Schmidt.
Die Ausmaße dieser Entwicklung – und ihre potenziellen Folgen – sind dramatisch. Die massenmedial-politische Debatte darüber ist: quasi inexistent. Warum eigentlich? Diese gesamtgesellschaftliche Entwicklung hin zur Bewegungslosigkeit wird nicht nur ignoriert, sondern vorangetrieben – bewusst oder unbewusst.
Freiheitsgrade
Anfang der 90er-Jahre wurden an Haupt- und Realschulen noch bis zu vier Stunden Sport pro Woche unterrichtet – heute liegen die Durchschnittswerte zwischen 2,2 und 2,4 Stunden. In elf der 16 Bundesländer wurde der Grundschul-Sportunterricht auf zwei Stunden gekürzt. Davon fällt jede vierte aus. Die Quote des „fachfremden Unterrichts“ durch Lehrer, die nicht dafür ausgebildet wurden, liegt im Fach Sport bei bis zu 50 Prozent.
Rund 40 Prozent der Schüler besuchen Ganztagesschulen, in Sachsen fast 80 Prozent. Die Kindheit und Jugend wird verschult. Verinstitutionalisiert. Verplant. Marktkonform gemacht – passend zu einer „marktkonformen Demokratie“, Zitat Angela Merkel. Die Effekte der Bildungsreformen der vergangenen 20 Jahre: weniger Zeit, weniger Tiefe, weniger Freiheitsgrade, mehr Masse, mehr Geschwindigkeit, eine frühere „Arbeitsmarktreife“, mehr Doppelverdiener-Eltern, die dem Arbeitsmarkt länger zur Verfügung stehen.
Leistungsfähigkeit
Der Forschungsstand zu Ganztagesschulen zeigt: Es sind keine Leistungsverbesserungen festzustellen. Die Leistungsfähigkeit deutscher Schüler nimmt seit Jahren massiv ab. Die Platzierungen Deutschlands in den renommierten internationalen TIMSS-Tests, in denen die mathematischen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten von Viertklässlern verglichen werden, in den Jahren 2007, 2011, 2015, 2019: 12, 16, 24, 25. Die Kompetenzwerte der deutschen Schüler liegen unterhalb des OECD- und des EU-Durchschnitts. Ein Viertel der Viertklässler erreicht nur rudimentäre oder niedrige mathematische Kompetenzen. Die höchste Mathematik-Kompetenzstufe erreichen nur sechs Prozent der Schüler. In Singapur sind es 54 Prozent – im EU- 9,4, im OECD-Durchschnitt 11,5 Prozent. In nur fünf der 58 Teilnehmer-Staaten ist der Leistungsunterschied zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund größer als in Deutschland.
Die Pisa-Studie zeigte: Zwischen 2006 und 2015 ist der Anteil der 15 Jahre alten Schüler, die das Mathematik-Höchstniveau erreichen, von 4,5 Prozent auf 2,9 Prozent gesunken. Auch die „Bildungstrend“-Studie zeigt, dass sich das Können deutscher Grundschüler innerhalb von fünf Jahren massiv verschlechtert hat. Gerade einmal etwas mehr als die Hälfte der Viertklässler erreicht den Regelstandard beim Schreiben. Nur 62 Prozent erreichen den Mindeststandard in Mathematik. Die Ergebnisse der „Vera-3“-Studie mit 24.000 Berliner Drittklässlern: Drei Viertel der Schüler können nicht oder kaum schreiben – sie erreichen die Regelstandards nicht. Die Hälfte bleibt sogar unter den Mindestanforderungen.
Leistung und Werte
Die freie Zeit wird weniger. Die digitalen Angebote werden mehr. Sport wird zum „Freizeit-Luxus“. Nach einer DLRG-Studie aus dem Jahr 2017 sind bundesweit 59 Prozent der Mädchen und Jungen am Ende ihrer Grundschul-Zeit keine sicheren Schwimmer. Der ‚Tagesspiegel‘ konstatierte im November: „In Deutschland wächst eine Generation der Nichtschwimmer heran.“ Die Zahl der Vereine, in denen laut eigener Aussage, leistungssporttreibende Kinder und Jugendliche unterstützt werden, ist rückläufig.
Dabei ist „Sport“ so viel mehr als Training und Leistungsvergleich: Für mehr als 95 Prozent der Trainer in deutschen Vereinen steht, neben dem Spaß, die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung im Mittelpunkt. „Damit wird deutlich, dass Sportvereine mit leistungssportlicher Orientierung nicht nur auf Sporterfolge ausgerichtet sind, sondern einen wesentlichen Anteil zur sozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen beitragen“, konstatierten die Autoren des Kinder- und Jugendsportberichts. Und: „Im Schulsport spielt der Leistungsgedanke vielfach nur eine untergeordnete Rolle.“
Dabei seien „Leistungsverbesserungen und Leistungsvergleiche für Kinder und Jugendliche selbstverständliche und attraktive Bestandteile des Sporttreibens. (…) Um in Sportvereinen den Leistungsgedanken wieder stärker zu fördern und somit eine solide Basis zur Talententdeckung und -entwicklung für den Spitzensport zu bieten, benötigen Vereine häufig finanzielle und personelle Unterstützung.“
Können und Wollen
Doch der Begriff „Leistung“ wird heute bereits teilweise negativ konnotiert. Warum? Auch in dem gesellschaftlichen Teilbereich des Sports wird die soziale Spaltung größer. „Untersuchungen zeigen“, so heißt es in dem Bericht, „dass Kinder aus sozial schwachen Familien weniger aktiv, gesundheitlich stärker beeinträchtigt – zum Beispiel durch Übergewicht und chronische Erkrankungen – und weniger häufig Vereinsmitglied sind. Sowohl im Sport als auch im Bereich Kultur.“
Sport kann dazu beitragen, gesellschaftlich gewünschte Werte zu vermitteln: Fairness, Teamwork, das Einhalten von Regeln, Anstrengungsbereitschaft. Auf dem Sportplatz, in der Sporthalle, im Schwimmbecken, auf dem Fahrrad sind alle gleich. Mit den gleichen Chancen. Mit den gleichen Regeln. Sport ist eine der mächtigsten Sozialisations- und Integrations-Instanzen überhaupt. „Sport und Bewegung von Kindern ist weniger eine Frage des Wollens oder Könnens – sondern eher eine Frage der elterlichen Erziehung und Prägung“, sagt Professor Christoph Breuer, Sportökonom an der Deutschen Sporthochschule Köln und Mitautor des Berichts.
Wenig Bewegung hat gesellschaftliche Folgen
Die Entwicklung hin zu immer weniger Bewegung hat nicht nur individuelle, sondern auch gesellschaftliche Folgen – direkte und indirekte. Zu ersteren zählen Zahlenverläufe: In den vergangenen drei Jahrzehnten ging die Zahl der deutschen Medaillen bei den Olympischen Sommerspielen um 66 Prozent zurück.
Die potenziellen Folgen: weniger Berichterstattung, weniger Vorbilder, weniger Motivation, weniger Ehrenamtliche, weniger Sport-Talente. Eine Abwärtsspirale. Die indirekten langfristigen Folgen der Marginalisierung und Abwertung des gesellschaftlichen Teilbereichs Sport sind vielfältig. Schon heute betragen die Folgekosten der Fehlernährung und des Bewegungsmangels: zwischen 15 und 20 Milliarden Euro pro Jahr. Tendenz: stark steigend.
Bewegung und Gesundheit
Während psychische Erkrankungen vor 20 Jahren noch nahezu bedeutungslos waren, sind sie heute die zweithäufigste Ursache für Krankschreibungen und Arbeitsunfähigkeit. Innerhalb von zehn Jahren hat sich die Zahl der psychisch bedingten Krankheitstage mehr als verdoppelt.
Die psychohygienischen Effekte von Bewegung sind wissenschaftlich nachgewiesen – und wurden unter anderem im Leitartikel der RennRad 10/2020 dargelegt. Die ebenfalls klar belegten positiven Effekte auf die kognitive Leistungsfähigkeit waren ein zentrales Thema des Leitartikels der Ausgabe 6/2019.
Ein Gegensteuern der Politik ist nicht auszumachen. Im Gegenteil. Dass die Empfehlungen der Autoren des Kinder- und Jugendsport-Berichts umgesetzt werden, erscheint als extrem unwahrscheinlich: „Die Sport- und Bewegungsumwelt von Kindern und Jugendlichen in Deutschland muss attraktiver werden (…). Auch zukünftig müssen Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft erfahrbar gemacht und vermittelt werden. Leistung muss somit einen festen Bestandteil im Kinder- und Jugendsport behalten. Dies gilt sowohl für den Vereins- wie auch den Schulsport.“ Damit sich etwas bewegt, braucht es zunächst eine gesellschaftliche Debatte über das Thema. Eine solche ist nicht auszumachen. Nicht einmal im Ansatz. Warum?
Mangel an Bewegung als Sterblichkeitsfaktor
Die Relevanz – und die Dringlichkeit – ist maximal. Einer der wichtigsten Sterblichkeitsfaktoren unserer Zeit lautet: Bewegungsmangel. Forscher gehen davon aus, dass weltweit rund 5,8 Millionen Menschen pro Jahr sterben, da sie sich nicht ausreichend bewegen. Nach Daten des Deutschen Krebsforschungszentrums sind mehr als sieben Prozent der Todesfälle in Deutschland auf Bewegungsmangel-Effekte zurückzuführen. Die potenziellen Folgen von mehr Bewegung? Fünf Millionen Todesfälle weniger pro Jahr – davon geht man bei der WHO aus.
Die neueste WHO-Richtlinie rät zu mindestens 21 Minuten Bewegung täglich für Erwachsene – und mindestens 60 Minuten für Kinder und Jugendliche. Doch: Selbst diese Minimalanforderungen – an sich selbst – erfüllen hierzulande nur rund 20 Prozent der Heranwachsenden. Tendenz: abnehmend.
Der Bewegungsmangel ist eine Art schleichende Pandemie. Eine, die medial-politisch fast ignoriert wird. „Die Sterblichkeit ist so gravierend, dass man als Politiker nicht einfach sagen kann, dass ich kurzfristig auf SARS-CoV-2 reagiere, aber wie viel tue ich für die Gesunderhaltung der Bevölkerung?“, fragte Perikles Simon, Sportmediziner an der Universität Mainz, in einem SWR-Interview. Er kritisiert, dass das Geld im Gesundheitssystem überwiegend für Krankheiten ausgegeben wird. Und nicht für die Prävention – nicht für das Vermeiden von Krankheiten. Dabei sei eigentlich „die Gesunderhaltung der Bevölkerung ein so zentrales Anliegen.“
Simon geht davon aus, dass der organisierte Sport extrem unter der Corona-Pandemie und ihren Folgen leiden wird. „Uns bricht die Sportinfrastruktur weg – und vor allem die Personen, die im Sport helfen.“ Die Folgen dieser Entwicklung sind: absehbar. Fatal.
Schwerpunkt: Pro Bewegung
Die Bedeutung von Sport und Bewegung nimmt hierzulande ab – mit etlichen negativen Folgen. Die langfristigen Effekte sind noch nicht alle absehbar. Doch alles spricht dafür, dass sie negativ sind.
Medial spielt diese Entwicklung kaum eine Rolle. Warum eigentlich? Und: Was kann man dagegen tun? Eine Petition starten? Wie kann man Druck auf die bislang für das Problem anscheinend blinden politischen Entscheider aufbauen?
Wie bei jedem Problem gilt auch hier: Jeder kann es selbst, im Kleinen, in seinem Umfeld, angehen. Andere weitere Ideen lägen auf der Hand: Die Sportvereine brauchen mehr Unterstützung, der Faktor Bewegung sollte an Einrichtungen wie Kitas, Kindergärten und Schulen einen viel höheren Stellenwert erhalten, bewegungsferne Menschen sollten durch Anreize – etwa in Form niedrigerer Krankenkassenbeiträge – zu mehr Bewegung animiert werden, die Verkehrsinfrastruktur sollte auf mehr Sicherheit für Radfahrer und Fußgänger ausgelegt sein.
Dieses Themenfeld bildet seit Jahren einen Schwerpunkt der RennRad-Leitartikel. Die Hintergründe, Zahlen, Studien und mehr dazu finden Sie hier.