Dolomiten-Rennen
Sportful Dolomiti Race: Radmarathon in den Dolomiten
in Event
Ich rieche, was ich hier, auf fast 2000 Metern über dem Meer, nicht riechen will: Regen. Es beginnt. Kleine dumpfe Einschläge – dicke Regentropfen und erst kleine, dann große Hagelkörner prallen auf meinen Helm. Immer wieder, bis es zu einem Prasseln wird, ein lautes Rattern, das meinen schweren Atem übertönt – aber nicht die italienischen Flüche der Radfahrer vor, neben und hinter mir. Der Asphalt unter mir wird von der Nässe dunkler. So dunkel wie das Gummi der 25 Millimeter breiten Reifen meines Rennrades, das ich mit meiner leichtesten Übersetzung von 34 Zähnen vorne und 32 Zähnen am Ritzel bewege.
Seit 90 Minuten geht es nur bergauf. Dann wird der Boden heller, immer mehr Hagelkörner prallen auf, springen nochmals wenige Zentimeter hoch in die Luft und bleiben dann liegen. Innerhalb von wenigen Minuten sinkt die Temperatur um 15 Grad. Die Sichtweite: 30 Meter. Dies sind die letzten Meter bis zum Gipfel, dem höchsten Punkt des Passo Rolle. 1984 Meter über dem Meer. Es ist eine Zahl. Nur eine Zahl.
Sportful Dolomiti Race: Pässe und Extreme
210 Kilometer, 5250 Höhenmeter. Es sind nur Zahlen. Aber viele Radsportler wissen, wofür sie stehen können, ja müssen: für Qualen, für Natur, für Schönheit, Kälte, Hunger, Freude. Für Ziele, für Träume. Für mich bedeuten sie heute: knapp zehn Stunden auf dem Rennrad.
Am Vortag bewegte ich zum ersten Mal nach vierzehn Tagen wieder ein Fahrrad. Einige Tage zuvor verbrachte ich im Bett, mit Fieber und Gliederschmerzen. Dieser Radmarathon ist ein Selbstversuch. Ich bin wieder gesund, aber nicht in Form.
Während dieser zehn Stunden bereue ich es oft, hier zu sein. Ich fühle mich schwach. Aber öfter, viel öfter, freue ich mich – über die richtige Entscheidung, über das Feedback des Körpers, über die Natur um mich herum, über die 1800 anderen Rennradfahrer, die heute wie ich das Ziel der Langstrecke erreichen, und die 1650 anderen, die die nur etwas weniger schwere Mediofondo-Strecke schaffen.
Ob nach 6:53 Stunden, wie der Sieger, der bekannte Granfondo-Spezialist und Ötztaler-Radmarathon-Gewinner Stefano Cecchini, oder nach mehr als 13 Stunden wie der Letzte, der das Ziel auf dem Kopfsteinpflaster der Altstadt von Feltre erreicht.
Kräfte der Natur
Heute ist einer der Tage, an denen man die Kräfte der Natur spürt. Zu spüren bekommt. Schon beim Start morgens um sieben Uhr ist es warm – bei knapp 20 Grad Celsius starte ich ohne Armlinge, ohne Beinlinge, die dünne Weste steckt in der Trikottasche. Der erste Pass des Tages: Cima Campo. Mit 1116 Höhenmetern auf 18 Kilometern zählt er allein bereits als Bergtour, die auf 1425 Metern über dem Meer endet. Doch nach ihm folgt der wahre Scharfrichter des heutigen Tages: der 2047 Meter hohe Passo Manghen. Er gilt als einer der schwersten Pässe der Alpen. Die steile Auffahrt aus dem Süden erstreckt sich über 22 Kilometer und 1626 Höhenmeter und viele Serpentinen, die unregelmäßig aufeinanderfolgen.
Wer sich seine Kräfte gut einteilt und für ein extremes Rennen wie das Sportful Dolomiti Race ausreichend trainiert hat, wird die ersten beiden Drittel des Anstieges gut meistern. Das letzte Drittel beginnt steil und bleibt es bis zum Scheitelpunkt. Die Straße führt mich aus dem dunklen Wald in einen hellen kleinen Wiesenkessel. Die Luft wird dünner. Die Perspektive auf die vielen Spitzen der Dolomitengipfel in der Weite verändert sich.
Ich bin jetzt inmitten der Berge, auf einem von ihnen. Nach einer 180-Grad-Serpentine ändert sich mein Blickpunkt wieder radikal, aber die Steigung bleibt gleich. Sie fällt nun kaum mehr unter zehn Prozent. Das Ziel, der Gipfel, ist nicht in Sicht.
Der höchste Punkt beim Sportful Dolomiti Race
Hinter der nächsten Kurve könnte es sein – doch wieder blicke ich nur auf die nächsten drei, vier Serpentinen. Und auf das unverändert steile Asphaltband, dem ich folgen muss. Meine Energie reicht nur noch dafür, mich auf den Rand der Straße und die Reifen meines Rennrades zu konzentrieren. Ich halte den Abstand konstant bei einigen Zentimetern. Ab und zu hebe ich den Kopf und bin überrascht über den Anblick. Andere Berge, andere Felsen, andere Sträucher. Ein weiteres Tal wird sichtbar. Schon wieder bin ich höher. Ich genieße es, zumindest unterbewusst.
Das vage Naturerlebnis mischt sich mit dem Gefühl der Erlösung, als ich endlich das braune Passschild sehe. Ich spüre die kleine Freude, wieder einmal mit dem Rennrad einen Ort über 2000 Metern Höhe erreicht zu haben. An der Verpflegungsstation nehme ich mir Zeit. Zeit für Kuchen und Käse. Ich esse, so viel ich kann, um meine Energiespeicher wieder aufzufüllen und weil es schmeckt: süß oder salzig. Die lange Abfahrt will ich zur Erholung nutzen und zur Verdauung. Die dünne Windweste reicht aus, um an diesem Frühsommertag in den Dolomiten nicht auszukühlen. Bislang. Noch.
Die Abfahrt führt in den Norden, hinab in die Wintersportregion des Fleimstals, das Val di Fiemme. Eine Kurve, noch eine Kurve und der Blick öffnet sich auf die andere Talseite. Ich sehe ein Schlachtfeld. An ganzen Hängen sind die Bäume abgeknickt, ganze Wälder sind geplättet, Bäume wie Zahnstocher umgeknickt. Als wäre ein Riese darüber hinwegmarschiert. Doch es war der Wind – Orkane tobten während der schweren Unwetter im Herbst 2018 über den Alpen. Der tagelange Starkregen führte zu Schlammlawinen, Überschwemmungen und Hochwasser.
Giro d’Italia
Die Katastrophe forderte Menschenleben. Die Zerstörung war groß: Die Brenner-Autobahn musste gesperrt werden, kleinere Bergstraßen wurden völlig zerstört. Die Straße am Passo Manghen und an anderen Abschnitten der Radmarathon-Strecke ist neu. Schwarzer, glatter, perfekter Asphalt, kilometerlang. Zum einen, weil sie nach den Zerstörungen neu gebaut werden musste. Zum anderen aus dem einen Grund, der jährlich auf einzelnen Straßen in ganz Italien zwischen Udine und Palermo für einen neuen perfekten Asphalt-Untergrund sorgt: der Giro d’Italia. L’anno del Giro, es ist das Jahr des Giro. 2019 fand die finale Bergetappe auf der Strecke des Sportful Dolomiti Race statt, nur zwei Wochen vor dem Radmarathon.
Hier ließ sich der Gesamtsieger Richard Carapaz auch am vorletzten Tag nicht mehr von Vincenzo Nibali oder Primož Roglič das rosafarbene Trikot des Gesamtführenden abnehmen. Hier ohrfeigte der kolumbianische Radprofi Miguel Ángel López einen Zuschauer, der ihm auf der Strecke zu nahegekommen war und ihn zu Fall gebracht hatte. Wie heute für mich, so war für die Profis während der drei Wochen der Italienrundfahrt der Passo Manghen der höchste Punkt – Cima Coppi nennen die Giro-Veranstalter diesen traditionell, benannt nach der italienischen Radsportlegende Fausto Coppi. Der Campionissimo ist für viele Tifosi des italienischen Radsports noch immer der größte Radsportler aller Zeiten.
Bei Predazzo beginnt die Auffahrt zum Passo Rolle: 20 Kilometer, 960 Höhenmeter. Die Durchschnittssteigung liegt bei 4,8 Prozent. Der billige Wortwitz bietet sich an und trifft auch zu: Er ist ein „Rollerberg“, er lässt sich gleichmäßig fahren. Das erste Drittel des Anstieges führt stetig und gemäßigt steil bergauf, danach folgt ein beinahe flacher Abschnitt.
Kälte und Krämpfe
Am Ende wird es wieder etwas steiler, doch es bleibt gleichmäßig, es lässt sich rhythmisch fahren: Man fährt auf eine Wand aus spitzen Dolomiten-Turm-Gipfeln zu, die Palagruppe. Angeblich befindet sich in diesen Bergen der kälteste Ort Italiens. Minus 49,6 Grad Celsius habe man hier im Februar 2013 gemessen, heißt es.
Der Anblick der Felswände ist berauschend, es ist einer der beeindruckendsten der Dolomiten. Der auffällige Cimon della Pala mit 3184 Metern Höhe wird wegen seiner Form auch als Matterhorn der Dolomiten bezeichnet. Sein Anblick ist so beeindruckend wie jener der berühmten Drei Zinnen, des Sellastocks oder des Schlern-Felsens. Heute sehe ich die schroffen Felsen der Palagruppe nicht. Seit ich den Passo Rolle hinauffahre, regnet es immer wieder. Der Regen wird immer stärker. Dunkle Wolken hängen in den Bergen, es donnert, es hagelt. Vier Grad zeigt das Thermometer meines Radcomputers. Am Pass esse ich, in der Abfahrt friere ich, gefühlt mehr als je zuvor. Über meinem dünnen Trikot trage ich nur meine dünne Weste, die lediglich etwas Fahrtwind abhält. Ich zittere so sehr, dass meine Hände an den Bremsgriffen verkrampfen. Ich bin froh über die starken Scheibenbremsen an meinem Rennrad, die auch bei Nässe greifen und trotz der minimalen Kraft aus meinen wie steif gefrorenen Fingern ihre volle Bremswirkung entfalten. Ein paar Minuten später bin ich wieder trocken – und schwitze.
Auf den letzten der 22 Bergabkilometer kommt mir warmer Wind entgegen. Die Sonne scheint wieder. Ich finde vier andere Fahrer, mit denen ich gemeinsam in einer schnellen Gruppe den letzten Anstieg erreiche. In Ponte d’Oltra beginnt die Straße anzusteigen, hinauf zum Passo Croce d’Aune. Dies ist der letzte Anstieg des Granfondo. Er beginnt mit steilen Rampen, im Mittelteil ist er etwas flacher. Das Finale ist unbarmherzig steil, oft mit zehn, zwölf, 13, 14, 15 Prozent Steigung.
Anstieg und Abfahrt
Heute bin ich hier der auf mich herabbrennenden Nachmittagssonne ausgesetzt. Oben am Pass, auf 1015 Metern über dem Meer, erreicht man nach 11,2 Kilometern und 605 Höhenmetern die wenigen Häuser der Ortschaft Aune – bevor es in die Abfahrt zum Ziel nach Feltre geht. Hier steht auch das große Denkmal für Tullio Campagnolo. Er bestritt hier im Jahr 1927 ein Radrennen, lange bevor es Gangschaltungen am Rennrad gab. Wegen der schweren Steigung wollte er in einen leichteren Gang wechseln.
Wie damals üblich, musste er dafür absteigen, die Flügelmuttern an der Hinterradnabe lösen, das Hinterrad ausbauen und mit der anderen Seite, auf der sich ein größeres Ritzel für eine leichtere Übersetzung befindet, wieder einbauen. Wegen der Kälte gelang ihm das nicht. „Ich muss dort hinten etwas ändern“, sagte er – und erfand den Schnellspanner, der noch heute das Logo des danach von ihm gegründeten Komponentenherstellers ziert. Doch von diesem Campagnolo-Denkmal am Pass ist es noch ein Wegstück bis zum Ziel.
In jedem anderen Jahr dürfte ich hier bereits hinabfahren, den Monte Avena hinunter, was auf Deutsch Haferberg heißt. Zu seinen Füßen liegt die Ortschaft und die gleichnamige, in Italien für ihre Bierspezialitäten berühmte Brauerei Pedavena. Doch heute geht es für mich noch weiter: noch 3,5 Kilometer, noch 240 Höhenmeter. Steil und steiler. Im Moment würde mir ein Gang wie zu Tullio Campagnolos Zeiten ausreichen, solange er nur leicht genug ist.
Tag der Demut
Dann, endlich, bin ich am höchsten Punkt des Anstiegs. Abfahrt. 70, 75 km/h. Im Tal führt die Strecke hinein in die Altstadt von Feltre, wo eine Woche zuvor das 24-Stunden-Rennen des ebenfalls in der Region beheimateten Radbekleidungsherstellers Castelli stattfand. Mir kommen bereits meine zehn Stunden Fahrzeit sehr lange vor – zehn Stunden auf einer so schweren Strecke, wie ich sie erst eine handvoll Male in meinem Leben erlebt und erfahren habe.
Einer Strecke, wie sie schöner und extremer kaum sein könnte. Zwischen verwüsteten Berghängen, bei sengender Hitze und Hagelschauern auf 2000 Metern Höhe. Dies war ein Tag der Demut. Und ein Tag der Momente, die man nie wieder vergisst – aber immer wieder erleben will.
RennRad 6/2020: Alle Inhalte der Ausgabe
Sportful Dolomiti Race
26. Ausgabe am 20. Juni 2021 | Feltre, Italien | www.sportfuldolomitirace.it/en
Granfondo: 207 Kilometer | 4900 Höhenmeter
Feltre – Fonzaso – Arsiè – Cima Campo – Castello Tesino – Telve – Passo Manghen – Molina di Fiemme – Predazzo – Passo Rolle – Imer – Ponte Oltra – Croce d’Aune – Feltre
Mediofondo: 100 Kilometer | 2600 Höhenmeter
Feltre – Fonzaso – Arsiè – Cima Campo – Castello Tesino – Passo Brocon – Ponte Oltra
– Croce d’Aune – Feltre
In der Reportage wird die für 2019 geänderte Strecke beschrieben – anlässlich des 25. Jubiläums und der Königsetappe des Giro d‘Italia.