Aventura Gravel
Gravel-Abenteuer in Spanien: Zwischen Barcelona und Girona
in Gravel
Die Stollenreifen graben sich in den Kies. Meine Hände verkrampfen sich am Lenker, ich versuche dosiert, aber kraftvoll zu treten. Das Hinterrad dreht sich, gräbt sich tiefer, immer tiefer in dieses mit Schotter gefüllte Schlagloch ein. Das Vorderrad hebt sich um wenige Millimeter vom Boden ab – an diesem steilen Anstieg von 15 Prozent. Ich lehne mich wieder nach vorne, trete fester, das Rad dreht weiter durch. Null km/h. Ich stehe. Ich wackle. Keine Traktion, kein Vortrieb. Das Gravelbike unter mir fängt an zu kippen. Ich versuche, mit dem Schuh aus dem Pedal auszuklicken. Dann falle ich. Ich kippe einfach um – und schlage auf dem staubigen Boden auf, auf Steinen und Erde. Blut am Ellbogen, Blut am Knie, Staub im Gesicht. Staub auf den Zähnen, Staub auf der Zunge. Denn ich kann nicht anders – als zu lachen. Und ich lache nicht allein. Rob steht hinter mir, die Arme auf den Lenker seines Rades gestützt. Er schüttelt den Kopf und lacht. Ich stehe auf und wir schieben unsere Räder, bis es wieder flacher wird.
Acht Prozent Steigung. Das ist wieder fahrbar. Fahrbar – das ist fast alles. Zumindest mit einem Gravelbike. Deshalb bin ich hier. Keine Autos, dafür Abenteuer. Natur, Wurzeln, Steine, Schotter, Staub unter den Reifen. Staub auf der Kette, auf der Haut, im Gesicht. Mitte Oktober, irgendwo zwischen Barcelona und Girona, im katalanischen Hinterland.
Mit dem Auto kann man es in etwas mehr als einer Stunde von Barcelona nach Girona schaffen. Denn etwas mehr als 100 Kilometer beträgt die Distanz zwischen den Städten nahe des Mittelmeers im Nordosten Spaniens. Man kann sich für die Strecke aber auch sechs Tage Zeit nehmen. Auf schmalen, steinigen Schotterwegen statt auf der breiten Autopista AP-7. Mit von einem langen Rennrad-Sommer müden Beinen auf einem Basso-Palta-Gravelrad statt in einem Seat Ibiza mit 80 PS.
Gravel-Abenteuer von Barcelona nach Girona
Seit Stunden, seit etlichen Höhenmetern sind wir gemeinsam auf mal feinem Sand, mal auf Schotter und mal auf steinigem Untergrund unterwegs, den man auch als felsig bezeichnen könnte. Der Schweiß auf unserer Haut und in unseren Trikots, Hosen und Socken wirkt wie ein Kleber, der den Staub festhält. Der Staub wird nach vier Stunden zur Kruste an den Schienbeinen und bildet gemeinsam mit Salzkristallen an den Oberschenkeln eine schmierige, dreckige Schicht.
Wir fahren durch Gestrüpp, streifen in engen Kurven mit den Schultern und den Beinen die Sträucher und Dornen, die in die Wege hineinragen. Bergauf, bergab. Es ist kein Rennen, es gibt nichts zu gewinnen. Aber es gibt so viel zu verlieren. Konkret: das Hinterrad des Vordermannes. Mit 34, 35 km/h fahren wir im Flachen über die staubigen Pisten, die noch im Stadtgebiet von Barcelona beginnen und von denen aus wir hinunterblicken auf die Metropole am Meer: die Vororte, den Hafen, die Sagrada Família – jene vom Architekten Antoni Gaudí im Stil des Modernisme entworfene Kirche, die seit 1882 wohl eine der sehenswertesten Baustellen der Welt ist. Zu deren Anblick neben den Türmen auch die noch weiter über die von Touristen, Feierwütigen und Erasmus-Austauschstudenten belebte Riesen-Stadt aufragenden Baukräne gehören. 2026 soll sie fertiggestellt werden.
Blick auf das Stadion des FC Barcelona
Von hier oben sieht man auch das Stadion des Fußballclubs FC Barcelona, das wie eine riesige Schüssel mit einer tiefen Öffnung in der Mitte so nahe am Stadtzentrum steht wie nur wenige der modernen Superstadien Europas. Fast 100.000 Zuschauer finden darin Platz. Mehr als 81.000 Menschen waren am Vorabend im Stadion, als der FC Sevilla zu Gast war, einer der wenigen ernst zu nehmenden Gegner, den „Barca“ in La Liga, der ersten spanischen Spielklasse, hat.
Mein Hotel liegt etwas höher als das Camp Nou. In der 78. Minute fiel das 4:0 zum Endstand. Torschütze: Lionel Messi. Die Jubelgesänge der Fans füllen die nächtliche Atmosphäre über der Stadt ebenso aus wie das bläuliche Licht, das aus der Stadionschüssel strömt.
Girona
Ganz anders ist Girona: Etwa 100.000 Einwohner hat die Stadt, die gut 100 Kilometer nordöstlich von Barcelona liegt. Ein lautes, hektisches Stadtzentrum findet man hier nicht. Stattdessen: Den breiten Fluss Onyar, der die Stadt teilt. Westlich liegt der modernere Teil. Östlich der mittelalterliche, mit der Kathedrale, den alten Stadtmauern am Hang und den vielen schmalen Gassen. Hier gibt es Cafés, Kneipen, Bäckereien.
Drei der bei Rennradfahrern beliebtesten Cafés der Stadt: das Federal, betrieben vom australischen WorldTour-Profi Rory Sutherland, sowie La Fabrica und Espresso Mafia, betrieben vom ehemaligen kanadischen Profi Christian Meier.
Wahlheimat vieler Radsportler
Girona ist nicht nur wegen der hohen Lebensqualität die Wahlheimat vieler Radsportler aus der ganzen Welt: Nach wenigen Minuten ist man weg vom Stadtzentrum, auf flachen oder bergigen Strecken, der Asphalt ist meist gut. Der bekannteste Anstieg der Region ist wohl die Stichstraße zum Rocacorba auf 959 Metern Höhe. Bei der 13 Kilometer langen Auffahrt vom Banyoles-See überwindet man gut 790 Höhenmeter.
Die Auffahrt über die in vielen Abschnitten zweistelligen Steigungsprozente lohnt sich: Vom höchsten Punkt aus kann man die im Frühjahr meist verschneiten Berge der Pyrenäen im Norden sehen. Für viele Rennfahrer ist es ein Test-Anstieg: Schaffe ich diesen Berg schnell genug, dann sollte die Form für das nächste Renn-Highlight reichen. Das Verkehrsaufkommen ist geringer als anderswo, die Autofahrer sind meist rücksichtsvoller.
Profis finden hier andere Profis zum Trainieren, und auch als Hobbyfahrer muss man nicht alleine fahren. Die Strecke von Barcelona nach Girona ist ein Genuss, ein ganz besonderes Erlebnis – in Sachen Landschaft und in Sachen Höhenmeter.
Renngeschwindigkeit
Bergauf, bergab. Steigt die Schotterstrecke an, dann trennt sich die Gruppe: Um hier schnell zu sein, reicht es nicht, an den Anstiegen eine hohe Wattleistung abrufen zu können. Gefragt sind auch sehr viel Balance und ein gutes Gefühl für den ständig wechselnden Untergrund. Wie schaffe ich es, auf dem Schotter im Anstieg nicht wegzurutschen? Wie verkrafte ich die Rhythmuswechsel, zu denen mich die großen Steine immer wieder zwingen? Kann ich bei fünf km/h und 15 Prozent Steigung noch präzise lenken, um den mit Kies gefüllten Schlaglöchern auszuweichen? Und vor allem: Gelingt mir das auch noch nach vier Stunden, in denen ich immer wieder am Anschlag gefahren bin – ohne Sinn und Ziel, einfach, weil es eben gerade ging – und die anderen um mich herum dieselbe Leidenschaft teilen?
Irgendwann ist der letzte Schotterweg für diesen Tag geschafft. Er mündet in eine perfekt asphaltierte Straße. Die Felstürme, die wir seit mehr als einer Stunde im Blick hatten, befinden sich nun direkt vor uns. Es sind die Sandsteinsäulen des Montserrat-Gebirges, das mit bis zu 1236 Meter hohen Gipfeln als letzte höhere, gut zehn Kilometer breite Bergkette vor der spanischen Mittelmeerküste liegt.
Kontrast zur Ruhe und zur Einsamkeit
Nicht nur der Asphalt ist dabei ungewohnt: Auch die vielen Hundert Menschen, die in Reisebussen hierhergebracht werden, aussteigen und Montserrat erleben wollen, bilden einen krassen Kontrast zur Ruhe und zu der Einsamkeit, die uns bislang auf unserem holprigen Weg bis hierher begleitet haben. Die Sehenswürdigkeiten hier sind nicht nur die Bergtürme und das zwischen ihnen auf 720 Metern Höhe über dem Meer errichtete Kloster, das wir auf dieser Tour nach 67 Kilometern und 1309 Höhenmetern erreichen.
Es ist der Blick über die Landschaft, der Blick von den Bergen bis ans Meer, wo Barcelona liegt. Doch wer in Barcelona startet, kann viel schneller an Höhe gewinnen. Direkt nördlich der Stadt liegt der Collserola-Nationalpark mit dem Tibidabo – das ist der klangvolle Name des 512 Meter hohen Hausbergs der Küstenstadt. An seinen Hängen gewinnt man schnell an Höhe und damit an Aussicht auf die Stadt, die Sagrada Família, das Camp-Nou-Stadion, auf das Meer. Hier ist man nie allein. Bergläufer und Radfahrer arbeiten hier an ihrer Form. Jugendliche sitzen mit Weinflaschen an den Wegen und teilen sich große selbstgedrehte „Zigaretten“, deren Pflanzenduft in der Luft liegt.
RennRad 3/2020: Alle Inhalte der Ausgabe
Es wird bereits dunkel, als wir mit hell leuchtenden Lampen am höchsten Punkt dieser 28-Kilometer-Abend-Tour mit 686 Höhenmetern am Lenker den Tibidabo auf den Schotterpfaden umrunden. Wir kommen an der Kirche Sagrat Cor an. Mit unseren Gravelbikes stehen wir zwischen einigen Erwachsenen und sehr vielen Kindern aus der Fünf-Millionen-Einwohner-Stadt. Tibidabo – der Name leitet sich aus dem lateinischen Verführungsversprechen des Teufels an Jesus ab: „tibi dabo“ – ich werde dir geben. Was für ein Name für einen Berg, an dem sich eine große, schöne, katholische Kirche neben einem Vergnügungspark befindet.
Churros: Wie eine viel zu schnelle Fahrt auf grobem Untergrund
Alles um mich herum leuchtet, blinkt und bewegt sich, während der Schweiß von meiner Nase auf den Radcomputer tropft, der in den Nachtmodus wechselt und mir sanft strahlend eine noch immer hohe Herzfrequenz bescheinigt: 161, 158, 160. Meine Brille beschlägt, in der Dunkelheit nehme ich nur noch die blinkenden Lichter des Vergnügungsparks und den vom Fußballstadion und dem Lichtsmog erhellten Himmel über der Stadt wahr.
Kinder lachen, schreien, weinen. Neben mir zischt das Fett der Fritteusen. In ihnen wird, wie an so vielen Orten in Spanien, die wohl ungesündeste – und vielleicht deshalb bei so vielen Kindern sehr beliebte – Speise zubereitet: Churros, Teigstangen, die erst frittiert, dann mit Zucker bestreut und anschließend in eine gehaltvolle Schokosauce getunkt werden. Sie zu essen ist wie eine viel zu schnelle Fahrt auf viel zu grobem Untergrund an einem viel zu steilen, scheinbar endlosen Anstieg. Es knirscht, es ist irgendwie sinnlos, es macht Spaß und es ist kein Ende in Sicht. Und: Sobald man auf den Geschmack gekommen ist, kann man nicht mehr damit aufhören. Man will immer mehr.