Verkehrswende, Leitartikel
Verkehrswende und Umweltschutz: Leitartikel zum Politikversagen

Leitartikel: Rad ab

Verkehrswende und Umweltschutz: Leitartikel zum Politikversagen

Umweltschutz, Menschenschutz, Verkehrswende – geredet wird viel. Gehandelt wird kaum. Der Radverkehr wurde jahrzehntelang vernachlässigt, die Bahn gegen die Wand gefahren.
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Wenden wohin man blickt und hört. Verkehrswende, Energiewende, Wirtschaftswende, Mobilitätswende. So sieht und liest man. So wird gesprochen, angekündigt, versprochen – wann immer ein Politiker in die Nähe eines Mikrofons gelangt. Seit Jahren. Die Realität zeigt, was diese Worte sind: Stickstoff, Sauerstoff, Spuren von CO2. Oder anders ausgedrückt: heiße Luft.

In den Neunzigerjahren lag der Anteil des Radverkehrs an den täglichen Wegen hierzulande bei unter fünf Prozent. 2017 bei elf Prozent. 53 Prozent der Wege zwischen einem und zwei Kilometern legen die Deutschen noch immer mit dem Auto zurück. Die Zahl der getöteten Radfahrer steigt seit Jahren – auf 445 Menschen in 2018. 63 mehr Tote als im Jahr zuvor. Insgesamt verunglückten 88.850 Radfahrer, elf Prozent mehr als 2017. Im ersten Halbjahr 2019 wurden 11,3 Prozent mehr Radfahrer bei Unfällen getötet als im selben Vorjahreszeitraum. Die Wahrscheinlichkeit, als Radfahrer bei einem Unfall zu sterben, ist inzwischen dreieinhalbmal höher als im Auto oder auf dem Motorrad. Das Risiko, sich schwer zu verletzen, ist siebenmal höher. Dies zeigen Daten der Unfallforschung der Versicherer. Deren Leiter Siegfried Brockmann bringt es in einem Interview mit dem ZEIT-Magazin auf den Punkt: „Wer zum Radfahren auffordert, ohne dass die Infrastruktur da ist, nimmt zusätzliche Tote in Kauf.“

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Dieser Artikel erscheint in RennRad-Ausgabe 1-2/2020

Ankündigungs-Weltmeister

Diese Zahlen belegen ein klares Politikversagen. Denn nichts ist alternativlos. Es geht auch anders, wenn man will. In Kopenhagen, wo 2018 49 Prozent der Arbeitswege mit dem Rad zurückgelegt wurden, sank das Risiko einer schweren Verletzung für Radfahrer innerhalb der letzten zehn Jahre um 59 Prozent. Zwischen jedem schweren Unfall liegen 55,7 Millionen Rad-Kilometer – dies entspricht einer Distanz von 143 Mal um die Erde. (ADFC, Fahrradbericht Kopenhagen 2018)

Die hierzulande Regierenden kündigen seit Jahren mehr Mittel für den Ausbau der deutschen Dritte-Welt-Land-Radinfrastruktur an. Eine Verkehrswende. Nun wurde verlautbart, dass die Mittel für den Radverkehr durch Gelder des „Klimakabinetts“ erhöht werden sollen. 900 Millionen Euro zusätzlich hat der Verkehrsminister Andreas Scheuer versprochen – bis 2023.

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Verkehrswende? „Deutschland muss mehr als 30 Jahre Stagnation aufholen“

Nur: Im Nachtragshaushalt für 2020 finden sich gerade einmal 50 Millionen Euro mehr. Zumindest ist dies die offizielle Zahl. Denn zuvor waren aus dem ursprünglichen Haushaltsentwurf plötzlich 19 Millionen Euro für den Radverkehr „verschwunden“. Aus den von der Bundesregierung veröffentlichten 50 wurden so in der Realität schnell nur noch 31 Millionen. Ein populistischer Taschenspielertrick.

Die Sprecherin des ADFC, Stephanie Krone, bringt es auf den Punkt: „Deutschland muss mehr als 30 Jahre Stagnation beim Ausbau der Fahrradinfrastruktur aufholen.“ Und: „Die Menschen in Deutschland wollen gern mehr Fahrrad fahren, aber die Verhältnisse auf den Straßen sind oft beängstigend.“ Dies belegen schon die enorm ansteigenden Unfall- und Todeszahlen.

Die gesamten Bundesmittel für den Radverkehr lagen 2019 bei 150 Millionen Euro. Hier die Summe, die allein die niederländische Stadt Utrecht – Einwohnerzahl 340.000 – jährlich in die Radinfrastruktur investiert: rund 17 Millionen Euro. Und hier die Summe, die allein das 2019 dort fertiggestellte größte Fahrrad-Parkhaus der Welt mit seinen 12.500 Stellplätzen gekostet hat: 30 Millionen Euro.

Investitionen in die Verkehrswende

Ein Bereich, in dem die Bundesregierung zukünftig massiv „sparen“ will, ist: Bildung und Forschung. Für 2020 plant der Finanzminister Olaf Scholz hier 533 Millionen Euro weniger ein. Auch von diesen radikalen Kürzungen nimmt in den Medien scheinbar kaum jemand Notiz. Für die Jahre 2020 bis 2023 schlägt Scholz, im Vergleich zur vorherigen Planung, eine Etat-Reduzierung um 2,4 Milliarden Euro vor. Allein 2020 wird der BMBF-Etat um rund drei Prozent gekürzt.

Die Politik der Bundesregierung ist nur auf das Hier und Jetzt ausgerichtet – Risse in der Fassade werden mit Steuergeldern zugekleistert. Die nächsten Steuererhöhungen sind bereits beschlossen, weitere in Planung. In die Zukunftsfähigkeit des Landes wird viel zu wenig investiert.

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Definition von Populismus

Die Definition von „Populismus“ lautet übrigens, nach der Erklärung des Dudens:

Eine opportunistische Politik, die „die Gunst der Massen zu gewinnen sucht“.

In einer Industrienation ohne eigene Rohstoffe, der die große Digitalisierungswelle noch bevorsteht, kann man sich wohl ausrechnen, was die langfristigen Konsequenzen von „Einsparungen“ und der massiven Niveauabsenkung im Bildungssystem sein werden.

Offiziell dominiert der „Klimaschutz“ alles. Nur passen die Handlungen nicht zu den Reden. Ein so einfacher wie effizienter Umweltschutz wäre es, den Rad- wie den Zugverkehr attraktiver zu machen. Doch Deutschland ist, wie die SZ einst schrieb: „Das Land der kaputtgesparten Bimmelbahn.“

Verkehrswende: Bahn an die Wand gefahren

Die Deutsche Bahn versinkt in Schulden, die forcierte Internationalisierung bringt kaum Gewinne, das nationale Schienennetz ist völlig veraltet und wird seit Jahren verkleinert, die Pünktlichkeitswerte sind miserabel, die Ticketpreise hoch. Das Ausmaß an Dilettantismus und Lobbyismus ist vielfältig sichtbar. Ein Beispiel: Über viele Jahre hinweg waren die Statistiken zu den 25.710 Eisenbahnbrücken des Landes falsch. Mehr als die Hälfte aller Brücken wurden mit einem falschen, meist deutlich jüngeren Alter ausgewiesen. Somit ergab sich anno 2017, dass das Durchschnittsalter der deutschen Eisenbahnbrücken schlagartig um 16,4 Jahre stieg. Ende 2018 lag es bei 73,5 Jahren. Mindestens 1250 Brücken sind so marode, dass sie abgerissen werden müssten. Entsprechend haben sich die nötigen Sanierungskosten, die 2016 mit acht Milliarden Euro ausgewiesen wurden, in 2017 auf mehr als 25 Milliarden Euro verdreifacht. Wunder geschehen.

Der gesamte Investitionsrückstau im Gleisnetz wird von der DB AG mit knapp 50 Milliarden Euro angegeben – fast 50 Prozent mehr als noch 2016. „Mehr Verkehr auf die Schiene“, tönen die Politiker. Nur, auch das sind, sehr nett ausgedrückt, leere Worte. Die Realität lautet: Immer weniger Güter werden auf der Schiene transportiert.

Bahnfahren wurde erschwert und unattraktiver

Wie es die streitbaren „Nachdenkseiten“, aus deren Recherchen auch die zuvor genannten Zahlen stammen, formulieren: „Sämtliche Regierungen haben es geduldet, erlaubt, forciert, dass die Bahn AG in den vergangenen 25 Jahren ihr Schienennetz von über 40.000 Kilometern auf 33.000 kastriert hat – um 20 Prozent. Sie haben es akzeptiert, dass in den vergangenen 25 Jahren über 100 Mittel- und Großstädte vom Fernverkehr abgehängt worden sind. Etwa Chemnitz, Potsdam, Heilbronn, Hof. Für rund 17 Millionen Menschen wurde durch dieses Abkoppeln das Bahnfahren erschwert und somit unattraktiver.“

Der aktuelle Bahnchef Richard Lutz hat demnach allein in seinem ersten vollen Amtsjahr, 2017, 344 Weichen ausbauen, 242 Bahnhöfe schließen, 205 Haltepunkte wegfallen lassen. Allein in jenem Jahr fielen 140.000 Züge komplett aus. „Gab es 1994 noch über 11.000 Gleisanschlüsse für Industriebetriebe, sind es jetzt nur noch 2357, Tendenz weiter sinkend. Gab es 1994 noch 131.968 Weichen und Kreuzungen, sind es heute nur noch 70.031.“ (Nachdenkseiten.de / Grafik: Tim Konetzka) Das Versagen muss System haben, anders ist es kaum zu erklären.

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Die Verkehrswende findet nicht nur bei der Fahrradinfrastruktur nicht statt – auch die Bahn ist systematisch gegen die Wand gefahren worden

Entgleist

Es sei denn, der Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hatte schlicht andere Dinge zu tun. Etwa Geheimtreffen mit den Industrievertretern, deren Unternehmen das von Beginn an zum Scheitern verurteilte PKW-Maut-Projekt betreiben sollten, abzuhalten. Diese musste er bereits einräumen. Die direkten Kosten des Projekts für die Steuerzahler liegen bei mehr als 53 Millionen Euro. Natürlich kommen auch massive Entschädigungszahlungen an die Betreiberfirmen auf die Politik – vulgo die Steuerzahler – zu. Laut Medienberichten rechnet die Regierung mit Kosten von bis zu 700 Millionen Euro.

Randbemerkung: Auch die Kosten für das Bahnhofprojekt „Stuttgart 21“ gingen den Weg, den in der jüngeren Vergangenheit wohl alle Großprojekte, die mit Steuergeldern finanziert werden, gehen: Sie explodieren. Von ursprünglich geplanten 4,5 auf aktuell 8,2 Milliarden Euro. Die natürlich nicht genügen werden. Welche Konsequenzen hatte dies nochmal für die Verantwortlichen? Und wie hoch waren nochmal die Investitionen in die Radinfrastruktur? Ja, selbstverständlich ist dies Polemik. Aber wie sollte man anders damit umgehen?

Parallel räumte der Verkehrsminister ein, dass sich die Beraterkosten für die Reform der Fernstraßenverwaltung und den Aufbau der Bundesautobahn GmbH mehr als verdreifacht haben. Statt der geplanten 24 wird die Arbeit der Consultingfirmen nun 86 Millionen Euro kosten. „Die vier Rahmenverträge mit externen Beratern sind aus dem Ruder gelaufen“, sagte der Minister. Welche Kosten laufen eigentlich nicht aus dem Ruder? Unterdessen laufen etliche weitere, für die Steuerzahler extrem teure Goodies für die Großindustrie natürlich weiter. So stiegen etwa die Kosten für einen Teilausbau der A61 mal eben von 800 Millionen auf 1,4 Milliarden Euro. Die Bundesregierung will den Ausbau im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft (ÖPP) umsetzen.

Auslagern

ÖPP beziehungsweise PPP, Private Public Partnership – das klingt gut, zunächst, nach Partnerschaft. Das Prinzip dahinter: Der Staat gibt öffentliches Gut an Firmen ab oder lässt diese es erst bauen, Straßen etwa. Und diese Firmen kassieren dann Geld, in Form von Maut, bei den Bürgern ab. Während der Staat die Kosten dafür los ist und deshalb die rekordhohen Abgaben der Steuerzahler senken kann. Dieser letzte Satz war natürlich purer Sarkasmus, denn die Abgabenquote kennt in Deutschland, wie die Strompreise, die Bürokratiedichte, die niedrigzinsgetriebenen Immobilienpreise und Mieten nur eine Richtung: nach oben.

Das Ganze ist – logischerweise, denn in dem Modell ziehen Großfirmen ihre Gewinne aus den Projekten – ein ganz schlechtes Geschäft. Für die Bürger. Schon 2014 ist der Bundesrechnungshof in einem Gutachten zu dem Schluss gekommen, dass sich das ÖPP-Modell für den Staat nicht rechnet. Von den sechs umgesetzten Projekten führten fünf gegenüber der „normalen“ staatlichen Umsetzung zu Mehrkosten – in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro.  Der Bürger wird demnach doppelt abkassiert.

Die Nachdenkseiten bringen es auf den Punkt und nennen die Auslagerung staatlicher Aufgaben – eines Staates, der wohlgemerkt die zweithöchste Abgabenquote der Welt von seinen Bürgern fordert, der laut Steuerzahlerbund einem Alleinstehenden im Durchschnitt „ganze“ 46 Prozent seines Bruttoeinkommens zum Leben lässt, dafür ein Rentenniveau, das rund 20 Prozent unterhalb des EU-Durchschnitts liegt; schon heute erhalten mehr als die Hälfte der Rentner weniger als 900 Euro pro Monat Rente; bietet und aktuell, quasi unwidersprochen, gleich mehrere Steuererhöhungen beschlossen hat und weitere plant: ein „Komplott gegen das Gemeinwesen“.

David Binnig, Leitartikel, Verkehrswende

David Binnig ist Chefredakteur der RennRad


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