Der heilige Berg
Japan: Rennrad-Reise ins Land der Olympischen Sommerspiele 2020
in Reise
Man sieht ihn aus hundert Kilometern Entfernung. Stundenlang fährt man auf ihn zu. Auf diesen Monolithen, diesen einen Berg, der aus der Ebene aufragt, 3776 Meter hoch. Der höchste Berg des Landes Japan – und der heiligste: der Mount Fuji, der Fuji-san. Auf seinem Gipfel wurde für die buddhistische Feuergöttin Fuchi ein Schrein gebaut. Rund 300.000 Wanderer brechen jeden Sommer auf, um den Gipfel zu erreichen. Viele schaffen es nicht. Ich sitze auf dem Rennrad und fahre auf diesen symmetrischen Kegel mit seiner schneebedeckten Kuppe zu. Gerade kann ich mich jedoch kaum auf die Schönheit der Landschaft konzentrieren, denn das Tempo in unserer kleinen Gruppe ist schnell. Der Hauptverantwortliche dafür ist 42 Jahre alt, Australier, schon 20 Jahre Wahl-Japaner und der Gründer von „RideJapan“. Sein Name: Adam Cobain.
Radrennen bei den Olympischen Spielen in Japan
Er zeigt uns die besten und schönsten Strecken der Präfektur Shizuoka – jener Region, in der im nächsten Jahr die Radrennen der Olympischen Sommerspiele von Tokio ausgetragen werden. Seit sich das IOC auf die Route festgelegt hat, herrscht in der Region am Fuß des Mount Fuji Aufbruchstimmung. Shizuoka will zu einer führenden Destination für Rennrad fahrende Touristen werden, auch für Gäste aus Deutschland.
Der erste Tag war noch harmlos. Begleitet von Mitgliedern des örtlichen Radclubs ging es von der Provinzstadt Gotemba ins hügelige Umland. Adam sprach am Morgen noch davon, dass es „über ein paar Hügel“ gehen soll. Diese präsentierten sich als Anstiege mit teils mehr als 500 Höhenmetern. Zu meinem Glück blieben die Steigungsprozente dabei meist im moderaten Bereich von vier bis acht Prozent.
Es ist so ruhig, dass man nur den eigenen Atem hört. Man erlebt nur sich und die Natur. Dabei fast immer im Blick: der Fuji. Am Vormittag zeigte sich der Berg sogar vollkommen wolkenfrei, was im Sommerhalbjahr eine Seltenheit ist. Wir lassen an diesem ersten Tag auf dem Rennrad das Stadtleben schnell hinter uns und fahren auf einer kleinen Asphaltstraße bergauf. Kein einziges Auto überholt uns. Uns umgibt vollkommene Stille. Eine Ruhe, wie man sie in einem so dicht besiedelten und stark industrialisierten Land wie Japan wohl eher nicht erwartet hätte.
Japan: Traumstrecken für Rennradfahrer
Die vielen kleinen Sträßchen sind ein Rennradfahrer-Traum. Doch ihre große Zahl hat einen Grund: Weil im früheren Fortschritts-Labor Japan die Konjunktur schon seit vielen Jahren schwächelt und die Bevölkerung dramatisch altert, versucht die Regierung mit öffentlichen Infrastrukturprojekten wie dem Straßenbau gegenzusteuern, um die Wirtschaft anzukurbeln. Deshalb entstehen immer mehr dieser kleinen und fast immer autofreien „Schleichwege“: Der Asphalt neu, glatt, schlaglochfrei, fast frei von Pkw, Lkw und Motorrädern – es ist die Konjunktur-Politik, die Rennradfahrer-Träume wahr werden lässt.
Nach dreieinhalb Stunden Fahrt: Mittagspause. Der Name des Restaurants sagt alles: „Niku Tomo“, zu Deutsch „Fleisch-Fan“. Zu den Speisen, die aufgetischt werden, zählen unter anderem rohes Pferde-Carpaccio und paniertes Schweinefleisch auf gebratenem Reis. Das Ganze ist etwas gewöhnungsbedürftig für eine Trainingsausfahrt – genauso wie das Platznehmen im Schneidersitz an nur kniehohen Tischchen, natürlich ohne Radschuhe. Der Wirt, der selbst Rennradfahrer ist, beobachtet unsere Verrenkungen mit einem mitleidigen Lächeln. Am Nachmittag lassen wir es wegen des Jetlags ruhig angehen und nehmen an einer traditionellen Tee-Zeremonie teil. Diese hat mit dem in Europa gängigen Tee-Trinken in etwa so viel zu tun wie das In-die-Mikrowelle-Schieben-einer-Tiefkühlpizza mit der italienischen Kochkunst.
Die Grüntee-Verkostung folgt, wie so vieles in Japan, strengen Regeln – sehr vielen sehr strengen Regeln. Als Dank für die bestandene Prüfung gibt es hinterher einen Grüntee-Brownie – und später beim traditionellen Kaiseki-Dinner wahre Kunstwerke aus Essbarem: das Ergebnis vieler Stunden Vorbereitung. Ein Ergebnis, das sehr weit weg ist vom Sushi-Laufband, wie man es aus deutschen Innenstädten kennt. Aber wen wundert es: Schließlich ist der Mount Fuji tatsächlich 9100 Kilometer von der Zugspitze entfernt.
Scharfrichter
Die Tour des zweiten Tages klingt mit 82 Kilometern und 1400 Höhenmetern zunächst auch überschaubar. Doch das mentale Sich-Zurücklehnen sollte voreilig sein. Wir fahren zum „Fuji International Speedway“, einer Motor-Rennstrecke, auf der 2020 das olympische Radrennen enden wird. Von dort rollen wir weiter, zu jenem Berg, der das Rennen wohl entscheiden wird. Zum Scharfrichter.
Die Daten: 6,8 Kilometer, eine durchschnittliche Steigung von zehn Prozent, eine Maximalsteigung von 20 Prozent. Das ist der Mikuni-Pass. Er führt auf eine Höhe von 1159 Metern über dem Meer. Der Anstieg ist hart, heiß, unrhythmisch – und fühlt sich endlos an. Er wird die Rennen spektakulär machen. Oben machen wir Pause, genießen die Aussicht, ziehen die Windjacken an. Abfahrt. Bis zum nächsten Anstieg. Dort kommen uns viele einheimische Rennradfahrer entgegen – schließlich ist es Sonntag und damit für viele Japaner der einzige wirklich freie Tag der Woche.
Eindrücke von der Japan-Reise der RennRad in der Bildergalerie
Radfahren hat in Japan Tradition
Die meisten fahren mit einer eher altmodischen Ausrüstung und einem großen Rucksack. Manche tragen sogar Mundschutz, wohl um sich selbst und andere nicht mit Bakterien zu belästigen. Das Radfahren hat in Japan zwar Tradition, allerdings eher das Tourenfahren in den Städten als der Rennradsport auf dem Land. Dieser wurde erst im vergangenen Jahrzehnt populär.
Zehn Kilometer später die nächste Pause. Wir halten an einer heißen Thermalquelle. Radschuhe aus, Füße rein. Solche kleinen Parks mit Quellen, Onsen genannt, gibt es in Japan in fast jedem Ort. Tiefenentspannt rollen wir ins Hotel zurück. Wir haben heute gelernt: 20 Prozent Steigung fühlen sich überall auf der Welt gleich hart an. Auch in der Nähe eines heiligen Berges.
Technik
Aber wo kann man schon aus einem Automaten mit kryptischen Schriftzeichen ein Heißgetränk ziehen und sich auf eine heiße Schokolade freuen, nur um dann festzustellen, dass es schwarze Bohnensuppe ist? Wo kann man nach dem Radfahren in ein von vulkanischen Quellen gespeistes, 45 Grad heißes Onsen-Bad tauchen und eine halbe Stunde lang einen akribisch zugeschnittenen Bonsai betrachten, bis auch der letzte Rest westlicher Hektik von einem abfällt? Und wo kann man sich auf eine beheizte und mit allem Techno-Schnickschnack ausgestattete Klobrille setzen, während aus dem Lautsprecher an der Toilette klassische Musik dröhnt und ab und an eine unverständliche Anweisung? Nach dem Spülen vielleicht sogar ein Lob?
Am dritten Tag reisen wir noch etwas weiter weg von Tokio: in die Kleinstadt Izu, die auf einer Halbinsel liegt, ganz nahe am Meer. Nach einer Stärkung mit so nahe am Ozean wunderbar frischem und auf der Zunge zergehendem Sashimi brechen wir zu unserer Fahrt in die umliegenden Hügel auf.
Wir verlassen das dicht besiedelte Haupttal, in dem sich traditionelle Baukunst und moderne Architektur abwechseln. Vorbei an Feldern, in denen junge Reissetzlinge im Wasser stehen, gewinnen wir rasch an Höhe. Noch sind die Pflanzen klein, später im Jahr wird hier alles in einem noch satteren Grün leuchten. Eine Greisin arbeitet mit gekrümmtem Rücken in den Feldern, ihre Bewegungen wirken trotz des hohen Alters würdevoll. Dann umschließt uns dichter Wald aus Laubbäumen und Bambus. Die Luft ist feucht und riecht würzig. Hier leben sogar noch Bären, hatte uns Adam erzählt. Wie zum Beweis, dass es noch wilde Tiere gibt, überquert vor uns eine meterlange Schlange die Straße. Später zwingt ein großer Dachs einen Mitfahrer zu einer Vollbremsung.
Fahrrad-Utopia
Das Velodrome, in dem die olympischen Bahnrad-Wettbewerbe stattfinden werden und an dem wir jetzt vorbeikommen, können wir leider nicht besichtigen. Es wird noch umgebaut. Als wir abends im „Kona Stay“ in Izu einchecken, sind wir um die Zeitersparnis froh, denn wir trauen unseren Augen kaum: Das ehemalige Ryokan – so werden die sehr traditionellen japanischen Hotels bezeichnet – wurde von seinem radverrückten Eigentümer in ein Fahrrad-Utopia verwandelt.
Es gibt großzügige Zimmer aus einem Mix aus Moderne und Tradition, mit Tatami-Matten und flauschigen Daunendecken, mit Leih-Rädern aller Kategorien von Rennrädern bis zu E-Bikes, einem Showroom, Rad-Ersatzteilen und Schläuchen aus dem Automaten, einem Grillplatz und einem Onsen-Bad. „Solch ein Ort ist ein Glücksfall“, schwärmt Adam.
Kampai
Denn ansonsten sei es in Japan nicht gerade einfach, geeignete Hotels für Radfahrer zu finden. Zum Dinner erscheint sogar der Bürgermeister von Izu, auch er ist ein Hobby-Radsportler. Er hat mehrere Jahre lang in Berlin für die Botschaft seines Landes gearbeitet und ist deshalb ungewohnt direkt für einen Japaner. „Was müssen wir tun, um langfristig mehr Radtouristen anzulocken?“, will er wissen. Er erinnert sich noch an die Winterspiele in Nagano 1998, wo vor dem Sportfest sehr viel investiert wurde – und danach gar nicht mehr. Es folgte der Absturz. Die Region um Nagano und Hakuba blieb auf einem Berg von Schulden sitzen. „Im Moment macht ihr alles richtig“, lautet unsere Antwort, als die dritte Runde Sake eingeschenkt wird. Zum Wohl, Kampai – Prost!
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Ans Meer
Der nächste Tag, die nächste Tour. Sie führt uns von Izu nach Shuzenji. Noch einmal genießen wir den Blick auf Reisfelder und Bambuswälder, auf die alten roten Brücken aus Holz, auf die Kraftplätze rund um die Shintō-Schreine. Nach einer langen, harten Auffahrt sehen wir oben, am höchsten Punkt eines fast 800 Meter hohen Passes, zum ersten Mal das Meer und die Sagami-Bucht. 15 Minuten später, nach einer zehn Kilometer langen Abfahrt, sind wir am Wasser und rollen an der Kaimauer von Heda entlang. Wir scheinen die einzigen Touristen zu sein. In der Bucht liegen Fischerboote. Tsunami-Warnschilder und Schutzwälle erinnern daran, dass das Meer nicht immer so friedlich ist wie heute.
Im nächsten Seebad zwängen sich Flaschentaucher vor einer Kulisse aus Häusern mit verwitterten Fassaden in ihre Neoprenanzüge – zum Baden ist das Wasser noch zu kalt. Am Himmel rotten sich dichte Wolken zusammen. Das geplante Mittagsessen mit Meeresfrüchten, Fisch und Riesenkrabben verschieben wir deshalb auf den Abend. Gerade noch rechtzeitig vor dem Platzregen erreichen wir unser Ziel, das Kona Stay. Es ist ein Ort, der sich heimisch anfühlt. In einem Land, das so modern, so altmodisch, so hochtechnisiert, so extrem anders ist. Einem Land aus mehr als 6000 Inseln, das zum Radsport-Mekka werden wird. Einem Land, das Straßen hat, von denen Rennradfahrer auf der ganzen Welt träumen. Einem Land am anderen Ende der Welt.
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Radsport bei den Olympischen Sommerspielen 2020 in Tokio, Japan
Die Olympischen Sommerspiele in Tokio finden vom 24. Juli bis zum 9. August 2020 und damit nach 1964 bereits zum zweiten Mal in der japanischen Hauptstadt und der Heimat von Shimano statt. Insgesamt 22 Wettbewerbe werden im Radsport ausgetragen: Straßen- und Bahnradsport, Mountainbike und BMX. Das Straßenrennen der Männer findet am 25. Juli 2020 statt, das der Frauen einen Tag später. Die Damen legen 137 Kilometer und 2692 Höhenmeter zurück, die Männer 234 Kilometer und 4865 Höhenmeter. Das Rennen der Männer beginnt im Musashinonomori-Park in Chōfu in den Außenbezirken von Tokio und endet im Fuji-Speedway am Fuß des Fuji.
Gefahren wird größtenteils in der Präfektur Shizuoka an der Südostküste von Honshū, der Hauptinsel von Japan. Shizuoka ist das Zentrum des japanischen Teehandels und im Sommer subtropisch schwül – für die Fahrer eine zusätzliche Herausforderung. Historisch spielt Shizuoka eine wichtige Rolle: In Shimoda befindet sich der Hafen, an dem 1854 das Ende der Isolation Japans besiegelt wurde, nachdem der Kommandeur der US-amerikanischen Flotte, Matthew Perry, genau hier mit seinen Kriegsschiffen vor Anker gegangen war und eine Öffnung des Landes erzwungen hatte. Diesem Ereignis wird in Shimoda noch immer jedes Jahr mit dem Kurofune-matsuri, dem sogenannten Fest der schwarzen Schiffe, gedacht.
Rennrad-Straßenradrennen sind seit den ersten Spielen der Neuzeit olympisch. Bis dato holten bei den Männern jeweils Olaf Ludwig und Jan Ulrich Einzelgold für Deutschland, beim heute nicht mehr ausgetragenen Mannschaftszeitfahren gab es zweimal Gold für das bundesdeutsche Team.